Welt am Sonntag
Meer-Pomm
Plötzlich taucht dieses große, schimmernde Gewässer vor mir auf. Ich fahre rechts ran, laufe zum Wasser, so wie ich es schon als Kind am Meer immer gemacht habe. Vier Uhr nachmittags, eigentlich beste Badezeit, ich ziehe die Schuhe aus, spüre den Sand unter meinen Füßen und tauche den rechten großen Zeh ins Blau. Uff. Eiswürfelkalt!
Das ist eine Schwelle für einen Warmbader wie mich. Ist eben doch nicht das Mittelmeer, sondern der Plauer See, Deutschlands siebtgrößtes Binnengewässer, wenn man den Bodensee mitzählt, den wir uns mit Österreichern und Schweizern teilen.
Um mir Bedenkzeit zu verschaffen, setze ich mich auf einen Steg, beobachte einen Angler und die Zugvögel über ihm. Dann packe ich den Neoprenanzug, den ich für meinen Badeurlaub in Mecklenburg-Vorpommern gekauft habe, wieder zurück ins Auto. Morgen ist auch noch ein Badetag.
Die Küsten Liguriens sind mir vertrauter als deutsche Seen, meinen Sommerurlaub verbringe ich normalerweise immer im Herbst oder Frühjahr am Mittelmeer. Auch dieses Jahr luden Freunde mich in ihre Häuser nach Italien und Spanien ein.
Doch dann kam die Welle – nicht aus Meerwasser, sondern durch Corona. Ich musste also das Mittelmeer in Deutschland finden und damit leben, dass die Temperaturen hier im Frühjahr dem Winter näher stehen als dem Sommer. Die Ostsee und die Nordsee schloss ich aber aus. Zu rau, zu nordisch, zu deutsch.
Ich erinnerte mich daran, dass ich immer schon die Mecklenburgische Seenplatte erkunden wollte. Bisher hatte ich sie nur im Vorbeifahren aus dem Zugfenster gesehen. Ihre sanften Gewässer hatten mich verrückterweise an die Leichtigkeit des Mittelmeers denken lassen und auch ein bisschen an: la bella vita.
Ich organisierte mir für eine Woche eine Privatunterkunft unweit des Tollensesees in einem Minidorf mit keinen fünfzig Einwohnern, einer Bushaltestelle, einem Hofladen; ringsum Wälder und vor allem: viele weitere Seen und Badebuchten.
Die Fahrt dorthin führt über Landstraßen und Alleen aus Eichen, vorbei an Feldern und Bächen, durch weites Land. Nach meiner Stippvisite am Plauer See soll mein Badeurlaub am nächsten Tag wirklich beginnen. Es bleibt allerdings bei dem Plan: Morgens strecke ich meinen Finger aus der Tür, es sind gefühlte fünf Grad Außentemperatur – für den Anfang ist mir das zu kalt.
Kurz entschlossen verschiebe ich das Baden. Bis die Sonne durchbricht, backe ich mir ein Sauerteig-Ciabatta mit Mecklenburger Tomaten und mitgebrachten kalabrischen Oliven und setze mich dick eingepackt mit einer Tasse dampfendem Tee in den Garten.
Dort bemerke ich die Ähnlichkeit der knorrigen Weiden mit alten Olivenbäumen. Auf dem Nachbargrundstück, einer Matschfeldwiese, knuspern vier, fünf Schweine Eicheln und suhlen sich dickbäuchig im Matsch. Ihre Kumpels in der Extremadura dürften kaum glücklicher sein.
Um mich zu motivieren, lese ich in einem Buch namens „Nie wieder krank“. Der Niederländer Wim Hof schwärmt darin vom Baden bei niedrigen Temperaturen, beschreibt die Kälte als edle Kraft, deren therapeutische Wirkung riesig sei. Richtig angewendet, helfe sie gegen Entzündungen, Depressionen und Herz-Kreislauf-Beschwerden.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich das glauben soll. Hof hat sich so weit trainiert, dass er stundenlang in einem mit Eis gefüllten Becken sitzen kann. Er ist Kopf einer ganzen Bewegung; auch zwei Münchner Freunde von mir posten regelmäßig auf Instagram, wie sie zwischen Oktober und April im eiskalten Wasser schwimmen.
Als der Morgentau verschwindet und es sich etwas wärmer anfühlt, mache ich mich auf die Suche nach einer geeigneten Badestelle – über 1000 Seen sollen zur Seenplatte gehören. Der erste, der mir auffällt, ist der Penzliner See.
Allerdings sieht es an seinen Ufern mit den bunten Bootshäuschen eher aus wie an einem skandinavischen Fjord. Außerdem ist mir hier zu viel los, ein Kindergarten campt, dazu jede Menge Spaziergänger – ich mag es ruhiger und möchte mich nicht darüber unterhalten müssen, dass es ja doch sehr kalt sei für einen Badeurlaub.
Gegen elf Uhr entdecke ich dann den Zieskensee, einsam gelegen, gesäumt von Kiefern und Lärchen. Der Strand ist aus feinem Sand und fällt nach unten hin ab, perfekt zum Einsteigen. Mein Notnagel-Lago.
Ich ziehe meinen Neoprenanzug über. Damit verstoße ich natürlich gegen die Wim-Hof-Methode fürs Kältebaden, die vor allem aus Atemtechniken und Meditation besteht, aber ich suche ja auch nicht die reine Lehre, sondern eine Art mediterranes Sommergefühl in Kaltfrontdeutschland.
Ich wage den ersten Schritt in den See. Brrr! Sind das acht Grad? Oder vier?
Er ist trotz meiner Gummihaut kalt, nach dem zweiten Schritt fühlt es sich noch kälter an. Als das Wasser meinen Oberkörper erreicht, verschlägt es mir kurz den Atem. Instinktiv möchte ich sofort raus.
Doch meine Eisbade-Freunde haben mich auf genau diesen Moment vorbereitet und gesagt, ich solle durchhalten und mich entspannen. Ganz langsam ins Wasser gehen, den Kopf nicht untertauchen. Ich hatte mich im Vorfeld mit ihnen ausgetauscht.
Sie hatten mir auch geraten, zuvor „zu sporteln“ und Bananen zu essen, um durch das darin enthaltene Magnesium mein „Herz zu powern“. Ich befolge all ihre Ratschläge, genauso wie den, ein stehendes Gewässer zu wählen. Nur den Tipp, nicht allein bei kalten Temperaturen in ein Gewässer zu gehen, missachte ich.
Meine Fesseln sind eiskalt, ich hätte wohl doch den Anzug wählen sollen, der nicht über den Knöcheln endet, denke ich. Doch plötzlich, nach etwa einer halben Minute, steigt ein Glücksgefühl in mir hoch. Endorphin? Adrenalin? Jedenfalls eine Hormon-Ausschüttung, der ich live und ziemlich klar im Kopf beiwohne.
Ich bin nun tief genug im Wasser, um zu schwimmen. Der Anzug hält mich an der Oberfläche, kurz fühlt es sich an, wie im Toten Meer zu treiben. Ich betrachte erst meinen kalten Atem auf dem Wasser oder, wie wir mittlerweile sagen: meine Aerosole. Zum Glück ist niemand in der Nähe. Dann schaue ich auf das stille Ufer gegenüber, das Schilf, wie es leicht hin und her wogt. Ich plansche richtig. Schön hier.
Nach sechs, sieben Minuten verlasse ich das Wasser, und draußen beginnt ein für mich neues Erlebnis, eine Wärmeexplosion. Die Blutgefäße, die sich durch das Kaltwasserbad zusammengezogen haben, weiten sich nun schlagartig, mein Körper scheint zu glühen.
Anstelle eines Aperitivo habe ich Kräutertee in einer Thermoskanne dabei, ich trinke einen Becher. Danach schlage ich mich in einen nahen Wald, beobachte Rehe, die vor mir erst stillstehen, dann weglaufen, lasse mich vom Moosduft umwehen. Ist natürlich nicht ganz wie am Mittelmeer hier, aber schon ein bisschen wie in den Wäldern der Abruzzen.
Auch an jedem der folgenden Tage gehe ich baden, immer in einem anderen See, immer ein paar Minuten länger; ganz am Ende werden es zehn bis fünfzehn Minuten am Stück. Auf dem Weg zum Wasser passiere ich kleine Orte.
Die Häuser – manche leer, oft mit blätterndem Putz – erinnern mich einerseits an triste Drehorte eines „Polizeiruf“-Krimis. Andererseits sind die Dörfer oft kaum größer als sizilianische, und auch hier überprüfen ältere Herren, in Gruppen auf Bänken sitzend, wer an ihnen vorbeituckert.
An der Lieps, einem See nahe dem Tollensesee, verschlägt mir das Panorama fast den Atem. In meinem Rücken das Jagdschloss Prillwitz aus rotem Klinker und Sandstein, vor mir eine Weite, die viele Meeresbuchten nicht zu bieten haben. Dazu der Überrest einer kleinen Insel, auf der sich jede Menge Kormorane niederlassen.
Ich bade ausgiebig, steige aus dem Wasser – sofort wieder diese Wärme –, hechte vom Steg aus noch einmal hinein. Fühle mich klar und frisch und genieße die Einsamkeit meines fast mediterranen Badeurlaubs in Deutschland. Nur das Wasser, die Vögel und ich. Meer-Pomm?
Am vorletzten Nachmittag steige ich, diesmal bloß mit Hawaii-Shorts bekleidet, in einen kleinen See. Wim Hof wäre jetzt richtig stolz auf mich! Ein Angler beobachtet mich dagegen skeptisch aus seinem Boot. Das Wasser ist kälter als sonst, aber eigentlich vermisse ich meine zweite Haut nicht. Ich drehe einige Runden. Ein paar Minuten lang ist es sogar angenehm. Vielleicht habe ich mich in Richtung Kälte vorgearbeitet?
Wehmütig sitze ich abends dann in meiner Holzhütte. Mein Bade-Abenteuerurlaub mit Feuermachen, Waldspaziergängen, Brotbacken, Kälteschock und Hitzegefühl ist bald vorbei. Am Kaminfeuer schreibe ich ein paar Abschiedsworte ins Gästebuch: dass ich ja eigentlich nach Italien wollte und irgendwie hier gelandet sei, aber auch gar nichts vermisst hätte.
Na ja, ein wenig Dolce Vita am Strand vielleicht schon. Dennoch möchte ich wiederkommen – dann, wenn hoffentlich alle geimpft sind, wieder nach Italien aufbrechen dürfen und dort diese typisch bunten Strand-Sonnenschirme aufspannen. Parasole heißen die auf Italienisch.
Gerade ist von Marco Maurer ein Buch über Italien erschienen, der Spiegel-Besteller: „Meine italienische Reise – oder wie ich mir in Sizilien einen uralten Cinquecento kaufte und einfach nach Hause fuhr“ (Prestel Verlag). Auch seine Kaltbade-Reise nach Mecklenburg unternahm er in diesem Gefährt.