FAZ am Sonntag
Liebst du Milch?
In Berlin haben die Bauern für gerechte Preise demonstriert – zu Recht. Wer in den Alpen Milch trinkt, weiß, was wir durch Preisdumping an Qualität verlieren.
Das Salzburger Land: Das ist, was Milch betrifft, nicht irgendeine Gegend. Das ist, jedenfalls behaupten das viele ernstzunehmende Experten, für Milch das, was der Nordosten von Bordeaux für Rotwein ist oder die Champagne für das gleichnamige Produkt – das Mekka, das Paradies, das Zentrum des guten Geschmacks. Und das wird nicht nur von den Tourismusexperten der Region behauptet, auch laut Studien von Stiftung Warentest, Greenpeace und der Universität Kassel geben jene Kühe die beste Milch, die irgendwo hinter München, zwischen dem Chiemsee, dem Berchtesgadener und dem Salzburger Land weiden. Warum das? Angeblich, weil ihre Milch mehr mehrfach ungesättigte Fettsäuren enthält als anderswo – Fettsäuren, die vom menschlichen Körper nicht hergestellt werden können und unter anderem das Immunsystem stärken, gegen Neurodermitis helfen und insgesamt lebensnotwendig für den Menschen sind.
In diesen Tagen wird viel über Milch geredet, über ihre Qualität, ihre Preise, in Berlin demonstrieren die Milchbauern, sogar Angela Merkel musste schon Stellung zum Milchkampf beziehen – Grund genug, einmal nachzuschauen, was gute Milch ausmacht und wo sie herkommt.
Mich interessiert diese Frage schon länger, genau genommen, seit ich fünf bin. Ich komme von einem Hof im schwäbischen Teil von Bayern, ich wurde immer zum Milchabgeben geschickt, mit siebzehn machte ich eine Ausbildung zum „Mofa“, zum Molkereifachmann, ich stand mit Gummistiefeln und Latzhose vor der Buttermaschine, es stank, es roch, süß und sauer, ich traf dort den Lactobacillus acidophilus und meine erste Liebe, die unter dramatischen Umständen für immer hinter den Milchkannen verschwand. (Sie hat, höre ich, jetzt irgendwo im Schwäbischen ein Haus und ein anderes Leben. Ihr Vater geht zu meiner Mutter in den Friseursalon. Aber das ist eine andere Geschichte.)
Ich verwandelte jedenfalls Rohmilch in Trinkmilch, in Käse, in Joghurt, in Pudding; die Buttermaschine, eine traktorengroße liegende Trommel, war mein ärgster Feind: Meine Butter wurde entweder steinhart oder zu flüssig, streichen konnte man sie jedenfalls nicht. Ich war mehr der Theoretiker. Ich verließ die Molkerei nach zweieinhalb Jahren Ausbildung. Aber was gute Milch ist, weiß ich.
Jetzt gibt es diese Studien, die belegen wollen, dass Kuhmilch im Süden gesünder und besser sei als im Norden, womit man sich auf den saftigen Wiesen von Niedersachsen und Schleswig-Holstein schon mal keine Freunde macht. Doch angeblich fressen Kühe im Süden häufiger von Weiden und Wiesen als die öfter im Stall campierenden Nordkühe, sie stünden, so die Studie, auf ihren Almen weiter oben als im flachen Norden, atmeten dort bessere Luft, fräßen die besseren Kräuter und produzierten auf diese Weise eine höhere Anzahl der schon erwähnten Fettsäuren. So weit die Studie. Jetzt kommt der Praxistest.
In Schleching im Chiemgau gibt es sieben Demeterbauern, „wir sind die Homöopathen unter den Bauern“, sagt Bauer Georg Stöger. „Was bringt es mir, den Kühen hinten und vorne was reinzustopfen, nur dass die 9000 Liter im Jahr geben? Was hab‘ ich dann? Eine unglückliche Kuh!“ Und getriebene Landwirte, „die den ganzen Tag nur unter Eutern sitzen“. In vielen ostdeutschen Milchviehanlagen stehen zweitausend Kühe und mehr. Auf Bauer Stögers „Haiderhof“ sind es sechzehn.
Bauer Stöger sprüht als Demeterbauer keinen Kunstdünger und schickt seine Jungkühe von Mai bis Oktober auf die Alm. Er sorgt sich nicht nur um sie, sondern auch um die Wiesen, auf denen sie stehen. Er betrachtet seine Kühe als sozial gleichberechtigte Wesen, nennt sie Arnika, Efeu oder Gundel, schneidet ihnen die Hörner nicht ab, wie sonst unter Deutschlands Bauern üblich, und rührt Kräuterpräparate aus selbst angebauter Kamille oder Baldrian an. Dazu gibt er ein wenig Eichenrinde, fein geriebene Quarzkristalle und ein mit Mist gefülltes Kuhhorn. Das alles vergräbt er im Herbst im Boden, gräbt es im Frühjahr wieder aus, rührt es mit Wasser an und verteilt so die „kosmischen Einflüsse“ über seine Böden. Das klingt alles ein wenig esoterisch, schaden tut es den Kühen aber nicht. Bevor Bauer Stöger auf seinen Feldern aussäht, schaut er in die Sterne und beachtet die Konstellation der Planeten. Sein Lieblingswort ist „weiterbilden“, sein Zaubertrank die Milch. Für sie bekommt er momentan 42 Cent pro Kilogramm, wie es in Molkereien gerechnet wird; der Durchschnitt in Deutschland liegt zwischen 20,5 und 22 Cent. Bauer Stögers Milch ist also auch beim Preis der Champagner unter Deutschlands Milch, aber der Mehrpreis lohnt sich: Sie ist fair hergestellt, ein wenig süß, vollmundig und perlt natürlich nicht, sie hat einen feinen Stallgeruch. Wenn man sie in den Kaffee gießt, schwimmen kleine gelbe Fettaugen an der Oberfläche.
Eine knappe Stunde später blicke ich auf dem Achberg über Schleching wieder tief in ein Glas Milch. Biomilch. Sehe den Kühen der Chiemhauser Alm zu, die liegen und lecken, kauen und fläzen, während die Wiesen um sie herum leise brummen – Tausende von Bienen tummeln sich zwischen den Margeriten, den Kräutern und den bayerischen Orchideen. In der Hütte riecht es nach Apfelkuchen, Kaffee und Ernte 23. Die Milch ist inzwischen ein wenig aufgerahmt, sie ist noch ein wenig fetter als die unten im Tal und schmeckt nach noch mehr Stall im Glas; und ein wenig besser als die Demetermilch im Tal. Liegt das am höheren Fettgehalt? Am klassischen Stallbouquet? An der Aussicht? Oder doch nur an den „almüblichen Lebensmitteln“ und den großartigen Käse- oder Speckbroten?
Der nächste Versuch: In Ramsau ist es bereits dunkel, Milchbauer Heimo Graßl eher wortkarg. Er bekommt keine 42 Bio-Cent das Kilogramm, sondern nur 29 Cent, er ist ein konventioneller Bauer, darf seine Milch nicht „bio“ nennen, obwohl er seine Milchkühe jeden Sommer auf die Kalbrunnalm schickt, wo bayerische und österreichische Bauern bereits seit Jahrhunderten zusammenarbeiten. Seine Kühe sind herkömmlich, aber besonders, denn die meisten Kühe, die man heute kriege, seien zumeist zu schwer für die Alm, sagt Graßl, seien „nicht geländegängig. Kippen um. Fressen ihre eigenen Körperreserven auf“ und werden zu Haut und Knochen, weil sie, um ihren Energiehaushalt zu halten, energiereiches Kraftfutter brauchten, das sie oben auf der Alm nicht bekommen würden. Graßl schätzt alte, gewöhnliche Kühe wie seine Helene. Sie ist seine Lieblingskuh: 13 Almsommer, 13 Jahre Almerfahrung. Noch ein Glas zum Abschied? Ja. H-Milch? „Die Kühe sind ja im Sommer auf der Alm“, sagt er – und die Frischmilch mit ihnen; da bleibt nur die aus der Packung.
Es geht weiter in Richtung Süden, Österreich wird immer bergiger, die Gipfelspitzen weißer, die Wahlplakate eindeutiger. „Kompromisslos ehrlich!“, „Garantiert unbestechlich!“, schreien sie einen großflächig an, während sich die Straßen mühsam nach oben winden.
Das Raurisertal ist nicht nur für seine Milch berühmt, seit den siebziger Jahren gibt es hier die Rauriser Literaturtage; im März 1972 las Thomas Bernhard aus seinem „Kalkwerk“ und erzählte vom Mord in der Jauchegrube, während die erbost blickenden Bäuerinnen in Goldhaubentracht ihre Speckknödelsuppen auslöffelten. Von Rauris aus ist es noch eine Stunde Fußmarsch ins Seidlwinkltal, hinein in den Nationalpark Hohe Tauern. Gibt es glücklichere Kühe als hier? Das Pinzgauer Rind weidet zwischen Wiesen und Wasserfällen, vor Bergwänden und Steinkulissen, es gibt eine Milch, die gut ist, aber nicht grandios. Wo aber gibt es dann die beste Milch? Und was ist ihr Geheimnis? Ein Indikator für gute Milch ist die silagefreie Fütterung – Futter, das nicht durch Milchsäuregärung länger haltbar und mit Energie, etwa durch Stärke aus Mais, angereichert wurde -, also zurück ins Flachland, vorbei an Salzburg, ins Heumilchgebiet. Bauern mähen dort Gräser von den Wiesen, trocknen sie und verfüttern sie frisch. Ein aussterbendes Handwerk: Nur zwei Prozent der europäischen Milch wird durch „das Heumachen“ produziert.
Die Kühe mampfen hier und schieben ihre Kiefer scheinbar noch genüsslicher von rechts nach links, von links nach rechts, sie verwandeln Heu in Milch.
Vor allem in Seeham, Heimat der Heulobbyisten, im Reich der Heukönigin, der Heumascherlträger und Heumilchbauern. Familie Oitner gehört zu diesen Heumilchbauern. Im Sommer 2008 klopfte bei den Oitners ein Mann mit dichten Augenbrauen an die Tür und fragte, ob er frühstücken könne. Nein, es sei keine Frühstückszeit mehr, zu spät, gab die Bäuerin zur Antwort, wedelte ein wenig mit dem Zeigefinger. Der Mann suchte das Weite; es war Rolando Villazón, der bei den Salzburger Festspielen den Romeo spielte. Ich habe Glück, ich bin rechtzeitig da – und ich habe noch nie intensiver schmeckende Tomaten, noch nie Eier gegessen, die gelber, besser waren. Und die Milch? Weiße Wonne, Schwelgen, Glas um Glas. Als ich nach dem Frühstück wieder losfuhr, sah ich einen Milchautomaten. Natürlich musste ich eine Automatenmilch probieren. Natürlich, dachte ich, wird sie scheußlich schmecken, wie Automatenkaffee, wie Automatenbrause.
Ich probierte.
Ich schmeckte ein mildes, aber kräftiges Aroma, einen feinen, klaren Abgang. Berauscht fragte ich bei der Bäuerin nach: „Ist das auch Heumilch? Bio? Keine Sillage?“ Sie schmunzelte. „Natürlich“, sagte sie. Hier war sie also, die faire Milch, die beste Milch der Welt, sie kostete 80 Cent, fast 60 Cent mehr, als der Durchschnittsbauer von Molkerei und Handel bekommt. Sie wäre noch mehr wert. Marco Maurer