Süddeutsche Zeitung
Das weiße Rauschen
Die Berner teilen eine große Liebe, es ist aber nicht die Zuneigung zu einem Mann oder einer Frau, sondern zu einem Fluss: der Aare. Sie ist Sommer für Sommer die Ader allen Lebens in der Schweizer Bundesstadt. Die Aare ist Bern, und man kann getrost sagen: Kennt man die Aare nicht, ist einem auch Bern fremd. An ihren Ufern essen und spazieren die Leute, sie treiben Sport, und nicht wenige verloben sich. Das innigste Verhältnis haben die Berner allerdings mit ihrer Aare, wenn sie sich in ihr treiben lassen, weswegen sie dieser Beschäftigung sogar eine eigene Redewendung widmen: „Chum mir gö ga ne Aareschwumm nä“; lass uns in der Aare schwimmen gehen.
Unter den Aarebegeisterten gibt es auch Aare-Experten, regelrechte Aarenauten. Einer von ihnen ist Willi Hess. Er ist 68 Jahre alt und lässt sich seit mehr als 40 Jahren zweimal täglich in der Aare treiben. Die Badesaison fängt für ihn im März an, frühestens im November geht sie zu Ende. Er war also mindestens 20 800-mal in der Aare. Man glaubt jeden dieser Tage an seiner sonnengegerbten Haut und dem schulterlangen, ausgeblichenen Haar ablesen zu können.
Sein täglicher Schwumm beginnt im Marzilibad. Das Marzili, erbaut 1782, ist das größte Flussbad der Schweiz. An heißen Sommertagen breiten hier bis zu 13 000 Gäste ihre Strandtücher aus. Eines davon gehört Willi Hess. Der ehemalige naturwissenschaftliche Zeichner trifft meist gegen drei Uhr nachmittags ein, zur besten Zeit für ein Bad in der Aare, denn dann ist sie von der Sonne aufgeheizt, sofern man das bei einem Fluss sagen kann, der etwa 100 Kilometer entfernt an den Eisströmen des Aaregletschers entspringt. Etwa um 15.02 Uhr sperrt Willi – nach 40 Jahren hat er seine Rituale –, die immergleiche Kabine mit der Nummer 171 auf, zieht sich um und steckt sich je zwei indische Bidi-Zigaretten, die Packung 2,60 Franken, hinter die Ohren. Er verstaut 20 Franken und ein Feuerzeug in der Badehose. Kurz darauf geht er flussaufwärts, um sich dann abwärts treiben zu lassen. Gehen gehört zum Aareschwimmen wie langsames Reden zu Bern.
An sonnigen Tagen gleicht das einem Gänsemarsch. Dicke, Dünne, Junge, Alte, Schöne, Hässliche, Reiche, Arme – alle pilgern sie die Aare entlang. Bekleidet nur mit Badehose oder Bikini. Es gibt viele, die aus diesem Grund nicht in der Aare baden gehen – weil sie zwei Kilometer lang ihren Körper ungeschützt präsentieren müssten. Willi Hess weiß davon, sagt aber nur: „Die Aare macht alle gleich.“ Er zeigt an diesem warmen Sommertag – 25 Grad Luft-, 17,9 Grad Wassertemperatur, leichter Wind – sein sanftes Stadtindianerlächeln. Dann erzählt er von einer Heldentat. Einmal sei er hinter einer spanischen Familie geschwommen. Den Vater habe ein Strudel gepackt, er tauchte längere Zeit nicht auf. „Wenn man den Wirbel richtig trifft, rupft er recht“, sagt Willi. Die Aare lasse einen aber immer wieder los; das habe der Spanier nur nicht gewusst und sei in Panik geraten. Willi hat ihn herausgezogen. „Ich habe noch nie so einen bleichen Spanier gesehen“, sagt er und raucht die letzte seiner vier Bidis. Jahr für Jahr gibt es Menschen, die den Fluss unterschätzen, sich in seinen Strudeln verlieren und ertrinken. „Man muss vor der Aare keine Angst haben“, sagt Willi, „sie tut nicht weh. Sie erschreckt einen höchstens.“
An einer unauffälligen Stelle hält er plötzlich. Schritt für Schritt taucht er in die Aare ein, wird sanft von ihr mitgenommen. Man spürt das kalte Wasser an den Zehen, geht weiter und muss in kurzen Intervallen ein- und ausatmen. Der Puls steigt. Das Herz pocht schnell. Willi schwimmt in die Mitte. Hier ist die Aare tief, es gibt keine hereinragenden Äste, keine Wirbel. Bald denkt man nicht mehr viel, lässt sich nur treiben. Die Ohren sind leicht auf Tauchstation und lauschen dem Sound der Aare. Sie knistert, sie flirrt. Ein heller, steter Klang. Die Strömung der Aare schleift Kiesel mit sich. Sie, die Abschmirgelungen Schweizer Berge, schlendern den Grund der Aare ab, stoßen aneinander und erzeugen das, was Willi als „weißes Rauschen“ bezeichnet und dem Aareschwumm etwas Transzendentales verleiht.
Die Aare sitzt dabei am Steuer, man fühlt sich chauffiert wie ein Beifahrer, während die Landschaft vorbeizieht: das dicht bewachsene Ufer, die Flamingos des Tierparks Dälhölzli, der 1906 errichtete Schönausteg, das Bundeshaus, dazu der türkis-milchige Schimmer der Aare, ihr weiches Wasser. „Durch sie nehme ich die Welt anders wahr“, sagt Willi, „wenn ich gehe, klopft jeder Schritt im Körper. In der Aare schwebe ich.“ Nach zehn Minuten kriecht man im Marzili wieder an Land, verlässt die Aare, ohne dass sie den Körper verlässt. „Sie hat etwas Reinigendes“, findet Willi. Die Kälte hält die Haut in Spannung, jeden Muskel spürt man. Die Gedanken ruhen.
Aber die Aare macht auch hungrig, weswegen es sich lohnt, vom Marzili ins Lorrainebad zu gehen. Dort gibt es die besten Pommes der Stadt. Das Lorraine ist das zweite große Berner Stadtbad – und kostet wie das Marzili keinen Eintritt. Der Schweizer Franken ist nicht nur gut zu seinen Bankiers, sondern auch zu den Badegästen. Auf dem Weg ins Lorrainebad sieht man Jugendliche, die Gummiboote klarmachen, um sich darin vier Stunden lang bis zum Wohlensee treiben zu lassen. Sie steigen auf der Höhe der Altstadt, am Schwellenmätteli ein. Dort macht die Aare einen Knick, die berühmte Aareschleife, die einmal um Bern führt. Am Wegesrand stehen Turnschuhe. Ihre Besitzer schwimmen in der Aare. Angst vor Dieben scheinen die Berner nicht zu haben. Oder sie nehmen einen wasserdichten Beutel mit, in dem ihr Hab und Gut steckt. Manche lassen sich sogar zur Arbeit treiben, Anzug und Krawatte fürs Büro sicher verpackt.
Im Jahr 2009 war in Bern ein Forscherteam aus Boston zu Besuch. Das Projekt hieß „urban swimming“. Zuvor war die Gruppe quer durch Europa gereist, nach Berlin, Barcelona, Venedig, Rom, Amsterdam und Prag. Dabei kam heraus, dass Bern die Stadt ist, die ihren Fluss am stärksten in die Stadtkultur einbindet, weswegen nun der Bostoner Charles River nach Berner Vorbild schwimmtauglich gemacht werden soll.
Auch Kaspar Allenbach hat über die Aare geforscht. Den 27-jährigen Berner trifft man häufig am Altenbergsteg an; von dort legt er die acht Schwimm-Minuten zum Lorrainebad zurück. Allenbachs Credo lautet: „Ein Sommertag ohne einen Aareschwumm ist ein verlorener Tag.“ Dann „gumpet är ache“: springt vom Steggeländer drei Meter in die Tiefe und gibt vorher den Rat, erst aareaufwärts zu blicken, um niemandem auf den Kopf zu springen. Allenbach ist Gestalter, seine Abschlussarbeit an der Uni Bern ist die Seite aareschwumm.ch.Ihr wichtigster Hinweis ist das „Aanetze“, das Benetzen mit Wasser, bevor es hineingeht, um den Körper an die Temperatur zu gewöhnen und keinen „Gfrörni“, sprich Kälteschock, zu bekommen.
Die Strecke zwischen Altenbergsteg und Lorraine ist, weil fern des Marzili-Trubels, die geruhsamere der Aareschwumm-Adern. Auch der Fluss selbst fließt langsamer, mäandert vor sich hin, ist so, wie Bern ist: ruhig, langsam, gemütlich. Im Lorraine, einem alternativen Strandbad mit Graffiti an den Wänden, angekommen, hält man es leider nicht lange aus. Man möchte wieder in die Aare. Am besten alleine, die Königsdisziplin des Aareschwumms.
Kurze Zeit später pocht das Herz wieder. Man hört den Soundtrack der Aare, lauscht auf sein Innerstes, sieht den blauen Himmel, schwebt – und fühlt sich wie ein echter Berner. Marco Maurer