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Bis zum letzten Atemzug
Normalerweise wäre Karl Maurer, Bayern-Mitgliedsnummer 3.167, seit 35 Jahren im Verein, aber eigentlich schon ein Leben lang, am Abend des Champions League-Finales 2020 im Stadion gewesen. Normalerweise hätte er mit seinen zwei Kindern und dem Bayern-Fanclub Nord-Ries 1980 auf den Rängen gestanden, sich in den Armen gelegen, hätte den Spielern des FC Bayern nach dem Gewinn des Triples zugejubelt und sich vielleicht im Moment des Triumphs daran erinnert, wie er einmal nach einer gewonnenen Meisterschaft zusammen mit Thomas Helmer eine Ehrenrunde im Olympiastadion gedreht hat.
Doch was ist schon normal im Jahr 2020, in dem das Champions League-Finale vor leeren Rängen und Ende August stattfand?
Karl Maurer ist am 23. August 2020, dem Tag des Finals, gestorben und wird zwei Wochen darauf an einem Samstag, der Wochentag, an dem normalerweise bei seinem FC Bayern gewesen wäre, beigesetzt – in einer roten Urne. In genau diesem Moment beginnt auf dem Friedhof ein Lied. Die Trauergäste, vielleicht dreihundert, vielleicht vierhundert, verabschieden sich mit rot-weißen Blumen, die sie auf sein Grab neben die rot-weiß geschmückten Blumenkränze legen. Einer wickelt einen rot-weißen Schal um das Holzkreuz, „Münchens wahre Liebe“, steht auf der einen Seite, auf der anderen „Bayern-Fanclub Nord-Ries 1980“. Das Lied, das gespielt wird, ist eine Klavierversion von der Bayern-Hymne „Stern des Südens“.
Das hier ist die Geschichte Karl Maurers. Sie ist die eines ganz normalen und gleichzeitig die eines außergewöhnlichen Bayern-Fans. Sein Leben war der FC Bayern, sagen alle, seine Freunde aus dem Bayern-Fanclub, aber auch sein früherer Jugendtrainer im Fußballverein, seine Zwillingsschwester, seine Frau, seine Kinder – und Pfarrer Tauber auf dem Friedhof in seiner Predigt.
Karl Maurer war einer von Millionen Bayern-Fans. Und in einem solchen Moment fragt man sich,warum sich das Leben mancher Menschen so eng und unwiederbringlich mit dem Schicksal eines Fußballvereins verknüpft. Wann beginnt so eine Liebe? Seine Zwillingsschwester, Andrea Maurer, geboren am 1. April 1962, ein paar Minuten nach Karl, sagt, er sei halt schon immer Bayern-Fan gewesen. In seinem Zimmer hing ein Poster von Paul Breitner. Vom jungen Karl, den sie Charlie nennt, hat sie ein Ritual noch genau im Kopf: Jeden Samstagmorgen in Oettingen, einem Ort im bayerisch-schwäbischen Ries, lief Charlie zum Glaskasten an der Gaststätte „Traube“, um zu schauen, ob er in der ersten Elf war. Der Rest der gesamten Woche hing von dieser Entscheidung ab. Derjenige, der sie traf, war Herr Maiwald, damaliger Inhaber der „Traube“, aber auch Trainer der Schülermannschaft des TSV Oettingen. Herr Maiwald, heute 79 Jahre alt, dem es wichtig ist, samstags zur „Sportschau“ zu Hause zu sein, sagt, Karl konnte nicht verlieren. Seine Gegenspieler, sagt Herr Maiwald, hätten es schwer gehabt, er war ein beinharter Verteidiger. Bayern-Fan sei er schon immer gewesen.
Mehr Licht ins Dunkel bringt Thomas Brantl, den alle Hombre nennen, weil er früher immer Paul-Newman-Western schaute. Hombre, Mitgliedsnummer 3.168, am gleichen Tag wie Karl Maurer dem FC Bayern beigetreten, am 1. Juli 1985, war der älteste Freund von Karl. Am Tag der Beerdigung trug er wie alle anderen aus dem Fanclub einen Schal um den Hals und weinte bitterlich. Hombre sagt, für Kinder aus dem Ries habe es früher drei Möglichkeiten gegeben: Entweder man wurde Fan dieses anderen Klubs aus München, dessen Namen man hier nicht ausspreche, der Bayern oder des 1. FC Nürnberg. Schließlich liege das Ries genau zwischen diesen Städten. Doch es gebe einen Mann, wegen dem eigentlich alle im Ries Bayern-Fan geworden seien, sagt Hombre, der Müller Gerd. „Bomber der Nation“ nennt man ihn heute, früher war er vor allem Nördlinger, Rieser, Spitzname: Hadde. Und Hombre glaubt, Karl Maurer war eines dieser Kinder, die ihr Herz wegen Hadde an den FC Bayern verloren.
Wer kann heute schon behaupten, er sei seinen Helden wirklich nahe? Klar, es gibt Instagram, Facebook, Twitter; man ist nah dran, und doch weit weg. In Bayern geborene Spieler wie Thomas Müller sind die Ausnahme. Im Oettingen der 1960er und 1970er Jahre war das anders. Gerd Müllers und Karl Maurers Lebenslinien verliefen nicht nur parallel, beide hatten auch Berührungspunkte.
Karl Maurers Großvater hatte eine Seilerei, 1933 gegründet, die heute in alle Welt exportiert. Früher stellte die Firma auch Garbenbänder her, die dafür verwendet wurden, Stroh zusammenzubinden. In die Bänder mussten Knoten geknüpft werden. Das taten Menschen in Heimarbeit. Zu ihnen gehörte eine Familie Müller in Nördlingen. Karl Maurers Vater und Großvater, die beide auch den Namen Karl trugen, lieferten die Bänder an der Tür der Müllers ab, Bergerstraße 4. Ein wenig später holten sie die mit Knoten versehenen Bänder wieder ab. Die Müllers hatten wenig Geld und mussten fünf Kinder versorgen. Der jüngste Sohn der Familie, Gerhard, knüpfte als kleiner Junge Knoten in die Garbenbänder der Familie Maurer. Aber egal, wie viel Gerds Vater und seine Kinder verdienten, das Geld blieb knapp. Karl Maurers Vater spendierte daher dem kleinen Gerd nicht nur Eis, sondern schenkte ihm auch Fußbälle und soll, so die Legende, ihm auch die ersten vernünftigen Fußballschuhe gekauft haben.
Als Gerd Müller im Sommer 1964 mit 19 zum FC Bayern wechselte, war Karl Maurer zwei Jahre alt. Etwa ein Jahrzehnt später sah er Müller erstmals im Olympiastadion, bei einem Spiel gegen die andere Münchner Mannschaft. Karl Maurer, sagen sie, ist im Olympiastadion groß geworden, hat als Kind erlebt, wie der FC Bayern dort Europapokal um Europapokal gewann, Hadde nicht nur Deutschland, sondern auch Oettingen zum Weltmeister schoss. Hadde hatte eine Beziehung zu Oettingen, sagen sie, auch als er bereits beim FC_Bayern war, soll er öfter Zeit im Flussfreibad des Ortes verbracht haben, eine Tante hatte er sowieso im Ort. Auch das erste offizielle Fußballspiel Müllers, 1958, war in Oettingen, Hadde schoss vier Tore beim 8:3-Sieg seines TSV Nördlingen. In einem späteren Duell schenkte er ihnen gar 13 Tore ein, Endstand 14:1, bei den Oettingern verteidigte ein Onkel Karl Maurers. „Er ist über unsere Köpfe hinweggeflogen“, sagt er. In dieser Familie, in dieser Region ist Karl Maurer aufgewachsen.
Jeder Fan hat einen anderen Weg zu seinem Verein, mal war es der Vater, der Onkel, die Schulfreunde, ein besonderer Spieler. Aber ist das Band erst einmal geknüpft, hält es ein Leben lang.
Im Oktober 1980 gründete Karl Maurer, damals schon Samstag für Samstag im Olympiastadion zu Besuch, zusammen mit ein paar Freunden den Bayern-Fanclub Nord-Ries. In diesen 40 Jahren – in denen er sich in einem zweiten Leben zum Bezirkskaminkehrer vorarbeitete, eine Frau heiratete und mit ihr zwei Kinder aufzog – hat er den Fanclub nie angeführt. Aber immer hieß es, der Vorstand, egal, wer es war, sei es „unter Karl“. Noch heute hängt der rote Glaskasten mit den Vereinsnachrichten am Geburtshaus Karl Maurers. Als der FC Bayern 2013 das Triple holte, eröffnete der Oettinger Fanclub sein Vereinsheim. Ein eigenes Heim zu haben, sei immer Karls Traum gewesen, sagt seine Frau Ines.
Mit dem Umzug in die Allianz Arena fremdelte Karl Maurer bis zuletzt, er war ein Kind des Olympiastadions. Wichtiger als Heimspiele wurden für ihn Auswärtsfahrten, Mailand, Rom, Madrid, London, er war überall, die Bundesligastadien kannte er sowieso. Mitte der Woche kam er aus Paris zurück und setze sich samstags in den Bus nach Berlin. Dazwischen organisierte er in seinem Büro, oft spätnachts, die Hotels und die Busreisen des Fanclubs. Er saß dabei auf einem FC Bayern-Stuhl, die Glastür seines Büros ziert ein großes geschliffenes Wappen, die Jalousien: rot, wie eigentlich alles im Haus, das Geschirr, die Tischdecken, die Handtücher, überall hängen Fotos und Eintrittskarten von Auswärtsfahrten – und, ja, auch die Bettwäsche ist rot. Der FC Bayern war für Karl Maurer wie die Luft zum Atmen.
Manche werden wegen der Kunstfertigkeit eines Spielers zum Fan, andere wegen der Gesänge im Stadion – andere wie Karl Maurer waren einfach schon immer Bayern-Fan. Der Fußball war alles für ihn. Jeden Abend saß er mit einem Bier an seinem Teich und blickte vorbei an einem rostigen Bayern-Emblem auf seine rot-weißen Karpfen. Das Wappen ist auf der Trauerkarte abgedruckt, genauso wie ein Bild von ihm, das ihn auf einer der Auswärtsfahrten zeigt, Champions League, Piräus, 2015.
Im März dieses Jahres erlebte die Welt eine Zäsur, und Karl Maurers Familie eine zweite. Nachdem Karl sich schwach fühlte, ging er zum Arzt, Diagnose Lungenkrebs. Ein paar Monate zuvor war er noch in London gewesen, hatte das 7:2 der Bayern gegen Tottenham bestaunt, genauso wie das 6:0 ein paar Wochen danach in Belgrad. Zum letzten Spiel vor der Corona-Pause, dem Heimspiel gegen den FC Augsburg, schaffte er es nicht mehr, drei Tage zuvor hatte er die Diagnose bekommen. Nur eine Chemotherapie konnte Karl Maurer noch helfen. Ins Krankenhaus nach Gauting reiste er mit dem FC Bayern-Trolley an. Dabei trug er wie schon seit Jahren täglich ein Shirt oder eine Hose des FC Bayern.
Vor dem Champions League-Turnier in Lissabon saß er mit Hombre, seinem ältesten Freund, auf seiner Terrasse, ihm ging es ein wenig besser. Sie redeten über Fußball. Karl glaubte, Bayern hätte gute Chancen auf das Triple. Wie seit Jahren hing eine große Bayern-Fahne in seinem Garten. Immer in der Sommerpause kaufte er sich eine neue, der Wind zerfledderte sie Jahr um Jahr. Eines Nachts im Jahr 2013 stiegen Freunde aus dem Fanclub in den Garten Karl Maurers und tauschten die Fahne gegen die blaue des anderen Münchner Vereins aus. Am Morgen darauf flog Karl Maurer mit seinem Sohn nach Barcelona, ihm war nichts aufgefallen. Noch am Münchner Flughafen bekam er einen Anruf von seiner Frau, ob er etwas von der blauen Fahne am Mast wisse. Ihr Mann zürnte, sagte: „Das ist Diebstahl, Sachbeschädigung. Du musst die Polizei rufen!“ Ines Maurer tat vermutlich das einzig Richtige, sie legte auf. Am Nachmittag tauschten seine Freunde die Fahne wieder aus, der FC Bayern gewann 3:0 in Barcelona, Karl war im Stadion, die Fahne hing, der Rest ist Geschichte.
Ines Maurer sagt in ihrem Garten, sie habe das Leben um den FC Bayern gelegt, Urlaube plante sie in Länderspielpausen. Einmal fragte sie ihren Mann, ob sie nicht ein paar Tage in Lissabon rund um ein Champions League-Spiel verbringen könnten. Sie bekam zur Antwort, zu solchen Spielen ginge er nur mit Freunden. „Du musstest so etwas als Frau ertragen“,meint sie. Aber Karl bemerkte ihr Missfallen und schenkte ihr daraufhin eine Lissabon-Reise. Seine Frau sagt heute, Karl hätte es entweder mit dem FC Bayern gegeben oder gar nicht. Der FC Bayern war sein Leben, sagt auch sie.
Der Tag, an dem die Bayern 8:2 gegen Barcelona gewannen, war für die Maurers ein seltsamer Tag. Sie hatten erfahren, dass Karl bald sterben würde. Emotionslos wie nie zuvor habe er das Spiel im Oettinger Krankenhaus verfolgt, erzählen sie. Das zeigt, dass Bill Shankley, der langjährige TrainerLiverpools, irrte, als er sagte, es gebe Leute, die denken würden, Fußball sei eine Frage von Leben und Tod, er möge diese Einstellung aber nicht, weil die Sache viel ernster sei. Karl Maurers Geschichte zeigt: Fußball kann den Tod nicht besiegen, aber er kann uns im Leben eine Menge geben.
Das Halbfinale gegen Lyon bekam Karl Maurer nicht mehr bewusst mit, aber seine Familie stellte ihm ein Radio ins Krankenhauszimmer. Am Morgen des Finales gegen Paris, um 3:13 Uhr, verstarb er. Auch für den Abend hatte seine Familie geplant, mit ihm zu Radio hören. Eigentlich hätten sie das Champions League-Finale in ausgelassener Laune im Vereinsheim anschauen können, auf dem einen Stuhl Karl, gegenüber seine Tochter Karina, daneben Hombre und sein Sohn Tobias. Doch nach seinem Tod schauten die Maurers im Familienkreis, der Bayern-Fanclub traf sich im Heim. Die Stimmung war seltsam, das wichtigste Spiel der jüngeren Vereinsgeschichte war unwichtig geworden. Nicht gejubelt, sondern geweint habe man, hier wie dort, sagt seine Frau und sagt Hombre.
Alle im Vereinsheim sagen, auf Karl konnte man sich immer verlassen, und er hatte ein großes Herz. Sie wollen Ines, seiner Frau, helfen: die Terrasse renovieren, das Haus streichen. Das schaffen wir an ein paar Wochenenden, sagen sie – die Bayern-Familie, auch dort.
Karl Maurer trug bei seiner Beisetzung ein Bayern-Trikot und seine schwarze Jogginghose mit dem Bayern-Wappen. Sein Sohn wickelte ihm zum Abschied einen Fanschal um den Hals. Nachdem der FC Bayern in der Nacht des 23. August das Triple gewonnen hatte, planten sie im Vereinsheim Karl Maurers Beerdigung – die Schals, die Blumen, die Rede – und ihnen war klar, der Stuhl auf dem Karl immer saß, müsse frei bleiben. Schon vor dem Spiel lehnten sie ihn in Gedenken an ihn an den Tisch und banden einen Bayern-Schal daran.So stand er, sie beklatschten die Tore und sie weinten, auch beim Eröffnungsspiel der neuen Saison gegen Schalke im Vereinsheim – und so lehnt er noch in diesem Moment genau an dieser Stelle.