Logo - Marco Maurer Journalist


Bei den wilden Kerlen

Nach dem unverhofften Olympia-Silber rüsten sich die deutschen Eishockeyspieler nun für die WM. Über ein Team, das Großes vorhat – sich aber neu finden muss

Sie sind wenige Momente vom olympischen Finale entfernt, der Kommentator zählt die Sekunden herunter: „3, 2, 1 … wenn das ein Traum ist, dann nicht aufwecken. Es ist Realit …“
Marco Sturm, Deutschlands Eishockey-Nationaltrainer, schaltet den Fernseher aus. Er und sein Team wurden an diesem Dienstagnachmittag in ihrem Büro in den Katakomben des Berliner Wellblechpalasts überrascht. Sie wollten testen, ob der Bildschirm für die Videoanalyse einsatzfähig ist, da flimmerte ein Zusammenschnitt aller deutschen Spiele bei Olympia im TV. Normalerweise benutzen die Berliner Eisbären die Halle. Die vergangenen Wochen holen Sturm und seine beiden Co-Trainer nun ein, sie können nicht widerstehen, Emotion schlägt Analyse. Sturm, 39, lächelt entzückt. Dann schaltet er aus. Er möchte sich das verlorene Finale gegen Russland nicht ansehen.
Mit dieser Episode sind die olympischen Tage endgültig Geschichte. Nun steht Anfang Mai die Weltmeisterschaft in Dänemark im Fokus. Dazwischen lagen Rathausempfänge, Einträge in goldene Bücher, Interview-Marathons.
Aber was Marco Sturm heute interessiert, sind: Abschiede. Mindestens elf seiner „Silberjungs“, so nennt er sie, werden bei der WM nicht dabei sein. Christian Ehrhoff, das Gesicht der Mannschaft, Kapitän Marcel Goc und Top-Stürmer Patrick Reimer erklärten ihren Rücktritt, auf dem Gipfel des Erfolgs oder aus Altersgründen. Ein klassischer Umbruch.
Sturm steht vor der Aufgabe, eine neue Mannschaft zu formen, die Erwartungen nach der Silbermedaille in Südkorea kleinzuhalten, den Erfolg bei der WM aber möglichst groß auszugestalten. Vielleicht seine größte Herausforderung, seit er das Amt 2015 antrat.
Mitte April in Berlin. Ankunft der Spieler im Hotel, keine Schönheit, ein Holiday Inn, das mit den Worten „sympathisch Ost“ für sich wirbt, siebenspurige Landsberger Allee vor der Tür, Lichtenbergs Platte im Rücken, in den Zimmern schon mal ein Röhrenfernseher.
Marco Sturm begrüßt seine Spieler im Foyer, sie kommen aus München, Köln und Kanada eingeflogen. Einer der Letzten, der eintrifft: Leon Draisaitl, der Star des Teams, 68 Millionen Dollar schwerer Vertrag bei den Edmonton Oilers, Profi in der nordamerikanischen National Hockey League (NHL), ein eleganter Spieler, der vor dem Tor eine unfassbare Ruhe bewahrt.
Ein Stockwerk höher, kurz darauf: 31 Männer sitzen an runden Tischen, essen Nudeln, Brokkoli und Huhn. „Servus, Männer“, sagt Sturm. „Jungs, letzte Woche war nix.“ Zweimal haben sie gegen die Slowaken verloren. „Auch spielerisch war ich nicht zufrieden. Deswegen sind wir nun mit einem neuen Kader hier.“ Bis zur WM werden rund 50 Spieler den Kader durchlaufen, nach jeder Woche werden Spieler gehen müssen, andere dazustoßen. Nur 25 kommen zur WM; Deutschland sucht das Superteam.
„Unsere Ziele sind hoch“ , sagt Sturm zu ihnen. Sie wollen die Vorrunde mit Gegnern wie Kanada, Finnland und den USA überstehen – ab dem Viertelfinale kann alles geschehen.
Leon Draisaitl und Marco Sturm schlängeln sich zu Fuß durch die Plattenbauten in die zehn Minuten entfernte Eishalle. Draisaitl schoss sein Team bei einem Entscheidungsturnier zu Olympia, durfte aber wie alle anderen NHL-Profis in Südkorea nicht aufs Eis; die Liga hatte es den Spielern verboten. Gefragt, wie er das fand, antwortet er: „Schade.“ Draisaitl ist berüchtigt dafür, nicht mehr als nötig zu sprechen. In der Mannschaft heißt es, er sei niedergeschlagen gewesen. Während sie gegen Russland um Gold in Pyeongchang rangen, stand er bei einer Auswärtspartie in Los Angeles auf dem Eis. Nur das letzte Drittel sah er, auf einem Monitor in der Umkleidekabine, um ihn herum die Kollegen aus Edmonton.
Am späten Nachmittag ist Training, Betreuer schleppen rund drei Tonnen Equipment in Alukisten in die Halle, Schläger, Kleidung, Tausende Energieriegel. Leon Draisaitl wickelt in aller Ruhe, ohne auf die anderen Spieler zu achten, Griffband auf seinen Schläger, prüft ihn minutenlang. Trainer Sturm sagt über ihn: „Leon ist unser Führungsspieler.“ In der Kabine könnte man meinen, Draisaitl sei einer der Nachwuchsspieler – so schweigsam ist er. Leon führe eher durch Leistung, sagt Sturm über ihn.
Gegenüber dem 22 Jahre alten Draisaitl sitzt Moritz Müller, 31 Jahre alt und 130 Länderspiele schwer, ein Urgestein der Kölner Haie. Draisaitl und Müller sind Freunde, teilen sich ein Hotelzimmer, sonst aber wenig: Der eine ist elegant auf dem Eis, der andere raubeinig. Der eine verdient sieben Millionen, der andere maximal 300 000 Euro im Jahr. Der eine ist bei sich und ruhig, der andere bespaßt gern seine Mitspieler. Draisaitl und Müller sind die so unterschiedlichen Stützen, um die sich das WM-Team formen wird. Weitere wichtige Rollen nehmen die „Silberjungs“ ein – Stürmer Matthias Plachta, Verteidiger Björn Krupp, Torwart Timo Pielmeier.
Bei den Trainings der ersten zwei Tage in Berlin spürt jeder: Es geht um was, Kufen fräsen sich ins Eis, Pucks schlagen gegen die Scheiben, es dröhnt, knallt, Torhüter unter Dauerbeschuss. Der Wettstreit im Kader ist hart, aber freundschaftlich.
„Wo ist Leon? Wir sind die Nachwuchs-Eisbären!“ – Eine Traube aus Jungs im Grundschulalter wartet nach dem Training vor der Tür der Kabine. Draisaitl steht wenige Momente später vor ihnen und lacht sie an. Er sagt, er hätte sich als Kind bestimmt „wie Bolle gefreut“, hätte sein damaliges Idol Marco Sturm plötzlich vor ihm gestanden. Über erwachsene Fans, die auf ihn zugehen, sagt er: „Es nervt nicht, aber ich empfinde es manchmal als störend, wenn es zu viel wird.“
Berlin-Mitte, guter Italiener, am Abend des zweiten Tages: Mannschaftsessen ohne Trainer. An zwei Tischen verteilen sich 27 Spieler, die meisten bestellen sich Penne mit Rinderfilet. Moritz Müller und Draisaitl sitzen nebeneinander, am zweiten Tisch nehmen Björn Krupp, der Sohn des früheren Eishockey-Nationaltrainers Uwe Krupp, und Marcel Müller Platz. Müller ist Stürmer in Köln, aber optisch wie akustisch ein Berliner, wie ihn sich Berlin malen würde. Man redet über Wechselgerüchte, die morsche Münchner Eishalle, solche Themen. Plötzlich kommen sie auf Müllers Familie zu sprechen. Er hat einen kleinen Sohn, Theo, und er sagt, dass er immer mehr feststelle, „dass Vater und gleichzeitig Eishockeyspieler zu sein das Beste für Kinder ist. Mein Sohn hat mehr von mir, als wenn ich in einem normalen Beruf arbeiten würde.“ Er komme meist um 13 Uhr nach Hause und habe dann Zeit für die Familie. Luxus sei das. Die anderen nicken zustimmend.
Der andere Müller aus Köln, Moritz, berichtet Ähnliches; seine Frau wird bald ihr zweites Kind bekommen. Er spielte daher mit dem Gedanken, die WM sausen zu lassen. Aber Marco Sturm, Müller und seine Frau fanden eine Lösung: Müller durfte die ersten Trainingswochen bei seiner Familie verbringen, aus Berlin reist er früher ab. „Hätte meine Frau gesagt: Ich brauche dich bei mir, wäre ich zu Hause geblieben“, sagt Müller.
Eine Flugbegleiterin, die das Team auf dem Weg nach Südkorea erlebt hat, wandte sich an einen der Mannschaftsbetreuer und lobte, was für „unfassbar höfliche Männer“ die Spieler seien. Nicht wie anderes Sportler, sie kenne viele, sagte sie. Sondern wirklich die netteste Mannschaft, die sie je erlebt habe. Diese Worte decken sich mit den Momenten in Berlin: Die Eis-Männer sind enorm muskulös, fast alle tragen Bärte, sie teilen harte Checks aus und können sie einstecken. Doch in der Kabine sprechen sie beinahe leise; viele in sanftem bayerischen Ton. Sie wollen, dass ihre Frauen Karriere und Beruf möglichst gut vereinen können, helfen ihnen, unterstützen sie. Vom Machismo, der noch vor nicht allzu langer Zeit die Eishockeykabinen prägte: nichts zu spüren.
Wolfsburg, nächster Abend, Länderspiel gegen Frankreich, ausverkaufte Eis-Arena, eine Stunde vor Beginn. Keiner spricht, jeder befindet sich in einer anderen Konzentrationsphase, in einem anderen Takt, jede Bewegung ist ritualisiert. Der eine bindet minutenlang seine Schlittschuhe, der andere poliert gedankenverloren die Scheiben seines Helms. Ein Dritter umkurvt wie beim Slalom die Gegner auf einer imaginären Eisfläche. Und die Torhüter sind eh die Größten: Timo Pielmeier verlässt immer als Letzter die Kabine. Am Ende sitzt er eine Minute lang allein da, blickt in die Leere der Kabine, erhebt sich und läuft mit kiloschwerem Material am Körper draußen in den Lärm.
Frankreich wird 7 : 1 vom Eis gefegt. „Good job, boys“, sind die ersten Worte Sturms danach. Darauf bekommt Stürmer Plachta einen Hut aufgesetzt, den alten Pepitadeckel von Xaver Unsinn, dem ehemaligen Bundestrainer, extra aus dem Museum des Deutschen Eishockey-Bunds herbei geschafft. Mit ihm wird stets der beste Spieler des Matches ausgezeichnet.
Leon Draisaitl wurde geschont; er kommt zwei Tage im Berliner Wellblechpalast zum Einsatz. Draisaitl erzielt ein Tor – wieder gegen die Franzosen, wieder ein Sieg, wenn auch ein knapper. Der Welli bebt. Nach dem Spiel bittet Sturm drei Spieler in sein Büro, diesmal nicht zur Videoanalyse. Er will den Spielern sagen, dass für sie kein Platz in der Mannschaft sei. Dass sie nicht zu den Besten gehörten. Marco Sturm hat es bestimmt sehr nett gesagt. Und mit den anderen hat er noch was vor.

++++++++++++++++++++
Der schönste Satz, den Marco Maurer während seiner Recherchen hörte, war: „Was heißt Franzbranntwein auf Englisch?“ Geäußert von einem bayrischen Co-Trainer, der sich mit einer finnischen Masseurin verständigen wollte