taz
Verschwörung der Vollbärte
Der Vorwurf steht im Raum: Sie seien „verkopft, gehemmt, unsicher, nervös, ängstlich, melancholisch und ratlos“, behauptet Nina Pauer in ihrem Essay „Die Schmerzensmänner“, erschienen im Januar in der Zeit. Schuld an dieser Verweichlichung von Männern habe – wie könnte es anders sein – der zeitgenössische Pop.
Die Autorin diagnostiziert, dass die „wunderbar melancholische Mädchenmusik“ – Pauer meint von Liebe singende Singer-Songwriter – für eine „jungmännliche Identitätskrise“ verantwortlich sei, weswegen sie quer durch den Popkosmos reitet und wahllos zitiert, etwa aus Herbert Grönemeyers Uralthit „Männer“ aus den frühen Achtzigern, genauso wie aus Textzeilen des Hamburger Sängers Gisbert zu Knyphausen. Aber vor allem beruft sich Pauer auf bärtige US-Folkmusiker, etwa auf Justin Vernon alias Bon Iver.
Zeitgenössische Popkultur ist der Autorin Beweis genug für ihre These eines neuen, schwächlichen Manns. Das ist Unsinn. Herbert Grönemeyer etwa galt in den achtziger Jahren im Mainstream als schrill und frech, Avantgarde war der Text damals schon nicht. Und heute noch weniger, denn der Mensch ist schlicht dann ein Mann – das zeigt die Genderdiskussion der letzten Jahrzehnte –, wenn er sich als einer fühlt.
Ein Ansatz, mit denen Musiker wie Scott Matthew, Antony Hegarty oder eben Justin Vernon hantieren. Künstler, die nicht dem Mainstream-Männerbild entsprechen. Und solche Identitätsentwürfe gab es im Pop schon immer. Brachte etwa Kurt Cobain Ende der Achtziger nicht mit seinem Zweiflertum ein adrenalingeschwängertes Rockgeschäft ins Wanken? Zerrte Freddy Mercury Mitte der Siebziger mit seinen homoerotischen Gesten nicht am tradierten Männerbild? Oder Prince? Oder Michael Jackson?
Diese Beispiele zeigen, im Pop hat es immer Raum für „andere“ Männer gegeben und deren sehr unterschiedliche Rollenbilder hatten Einfluss auf gesellschaftliche Milieus oder umgekehrt. „Höre ich Popmusik, weil ich traurig bin? Oder ist mein Leben so elend, weil ich Popmusik höre?“, diese Grundfrage stellt sich etwa der Protagonist Rob in Nick Hornbys Roman „High Fidelity“. Eine verunsicherte Figur aus dem Jahr 1986, sie ähnelt frappierend dem „neuen“ männlichen Protagonisten in Nina Pauers Essay. Eine literarische Figur wie aus einem Bob-Dylan-Song-Ich geschnitzt, jemand, der stets darauf hinweist, wie ihn alles quält. Eine ewig aktuelle Figur.
Jammern ist nicht nur Männersache. Das belegen Künstlerinnen wie Nico, Soap & Skin, Fever Ray oder Au Revoir Simone, die mit ihrer Unsicherheit, ihrer Todessehnsucht und ihren Selbstzweifeln geradezu kokettieren. Die Hymne aller Zweifler ist „I just don’t know what to do with myself“ aus dem Jahr 1964. Komponiert wurde der Song von Burt Bacharach, einem Mann. Zu weltumspannender Bedeutung kam er durch die Sängerin Dusty Springfield, einer Frau. Beliebt war er zuletzt in der Version der White Stripes, 2003. Trauer zieht sich durch alle Zeiten. Warum also jetzt die ganze Aufregung?
Bereits im Mittelalter gab es Songs voller unerfüllter Liebe, die Minneklagen; Walther von der Vogelweide war demnach der bekannteste Emo-Boy. Gezaudert wurde aber in allen Jahrhunderten. Blues heißt nicht zuletzt deswegen Blues, weil seine Musik traurig ist, oder wie es Townes Van Zandt mal ausdrückte: „There’s the blues, and there’s Zip-A-Dee-Doo-Dah.“
Zu Beginn der Achtziger hatten die Wimps, die Schwächlinge im Pop, Konjunktur. Frauen und Männer verwischten ihr schwarzes Make-up, weil sie Robert Smith von The Cure jammern hörten, wie er „Can you help me?“ in dem Song „Three Imaginary Boys“ sang. Smith klingt dabei völlig verunsichert, deprimiert, vor der Auflösung des Song-Ichs. Das Stück von 1979 spielt auf Freuds Kampf des Ich mit dem Es und dem Über-Ich an. Selbstzweifel, die schon ganze literarische Leben, wie etwa die von Franz Kafka oder Edgar Allen Poe prägten.
Popstars sind manchmal sogar nur durch den in Songs zum Ausdruck gebrachten Schmerz zu besonderer Größe erwachsen. „Wenn du so lustig bist, warum bis du heute Abend allein in deinem Zimmer?“, singt ein gewisser Morrissey 1986 in „I Know It’s Over“ und säht damit gigantische Zweifel. Morrissey beeinflusst mit seinem klagenden Ton noch heute. „The Smiths waren das einzige, worauf ich mich verlassen konnte. Ich dachte, sie würden mich nie im Stich lassen“, schreibt der Autor Marc Spitz in seinem Roman „Wann nur wenn nicht jetzt?“
Doch auch nach der Auflösung von Morrisseys Band The Smiths 1987 ergründet jede Generation für sich ihre jeweils eigenen Zweifler und Jammerer. Mal heißen sie Belle and Sebastian, Death Cab for Cutie, dann werden Joy Division wiederentdeckt, oder Nick Drake. Faszinierend, dabei zuzuhören, wie Musiker ihrem Innersten lauschen, wie sie thematisieren, dass sie sich in der Gesellschaft unwohl fühlen. Popsongs dienen somit auch als Katharsis für Künstler und Rezipienten. Ob Mann oder Frau ist, einerlei. Es singt immer ein „Ich“. Marco Maurer