Süddeutsche Zeitung
Die bayerische Marta
Die Leidenschaft ist, wenn sie vom aktiven Frauenfußball redet, noch immer zu spüren. Ihre Pupillen weiten sich dann, ein wenig überschlägt sich ihre Stimme. Verloren gegangen sind dagegen die Schnelligkeit, das Stellungsspiel einer Innenverteidigerin – und das gute Auge Helga Fauls. Diese verbergen sich hinter dicken Brillengläsern und wo einst die Beine trugen, muss heute eine Gehhilfe buchstäblich weiterhelfen. Und wenn der Rollator gerade nicht zur Hand ist, dann muss es eben ein hölzerner Spazierstock richten.
Die 75-jährige Faul war Mitte der 50er Jahre eine der ersten Nationalspielerinnen Bayerns. In einer Zeit, in der es eigentlich keine Nationalspielerinnen gab, weil der Deutsche Fußball-Bund (DFB) zwar Frauen kannte – die deutsche Weltmeister-Elf von 1954 soll dem Vernehmen nach sogar einige Frauen gekannt haben –, aber am Ball konnte man sie sich dann doch nicht vorstellen, weswegen der DFB Frauenfußball mit den Worten „das Zuschaustellen des Körpers verletze Schicklichkeit und Anstand“ verbot.
Doch Helga Faul konnte das nicht abschrecken. „Das war uns egal. Genehmigungen haben mich nie interessiert“, sagt sie in ihrer nicht immer einfachen, widerspenstigen Art.
Später wird sie über Ex-Bundestrainer Berti Vogts, sagen: „Wie der 1996 Europameister geworden ist, wundert mich noch heute“, und beweist so einen ausgezeichneten fußballerischen Sachverstand. Vogts wird auch heute noch mit dem Ausspruch „Ich bin gegen Frauenfußball, es gibt so schöne Sportarten, warum ausgerechnet Fußball?“ zitiert.
In einer Nürnberger Kugellager-Fabrik war Helga Faul lange Zeit „Vespermadl“, also die Frau, die den Arbeitern Essen brachte. In ihrem Fußballerleben widersetzte sie sich allerdings nicht nur einmal den Vorschriften der Männer. So stellte sie sich entgegen der Abmachung mit ihrem Trainer zu Beginn einfach in den Sturm. 15 Jahre bevor sich der Gladbacher Günter Netzer im DFB-Pokal-Finale gegen Köln selbst einwechselte. Netzer traf, im Spiel der Nürnbergerinnen gegen eine österreichische Auswahl trug auch Helga Faul einen Treffer zum 5:1-Sieg bei. Vielleicht emanzipierte sich der Frauenfußball manchmal ein wenig früher, als heute gedacht.
Helga Faul ist eine etwas störrische ältere Frau, die – glaubt man ihrer Schwester Erika – diesen Charakterzug von ihrer Mutter Maria geerbt haben soll. Und in deren Schlafzimmer begann Helga Fauls Leidenschaft: Fußball.
Mit sieben Jahren entdeckte Faul die Leidenschaft für das Kicken – zunächst aber noch ohne rundes Leder. Alles begann mit einem Vorhang. „Ich hatte keinen Ball und an den Vorhängen meiner Mutter waren Holzkugeln zum Beschweren der Gardinen befestigt. Die habe ich abgeschnitten. Damit hat man wunderbar Fußball spielen können“, sagt sie lakonisch.
Mutter Maria hat ihrer kleinen Helga schnell verziehen, einen Ball aber hat sie – vielleicht ja als späte, liebevolle Vergeltung einer Mutter – Jahre später nur der sieben Jahre jüngeren Tochter Erika geschenkt. Doch da hatte sich Helga Faul schon längst mit einem Ball aus alten Kleiderlumpen arrangiert und wurde so zur vielleicht ersten Straßenfußballerin Bayerns, man könnte fast sagen: Brasilien hat heute seine Marta, Bayern längst seine Helga.
Deren Schwester Erika beschwert sich noch heute, und ist dabei ein wenig grimmig, wenn sie sagt. „Sie hat mir einen Ball nach dem anderen geklaut, ich habe ihn erst wieder gesehen, als die Luft draußen war, als er kaputt war.“
Doch auch einer Straßenfußballerin ist manchmal die Straße nicht Rasen genug. So kam es, dass ,nachdem Helga Faul den 2:1-Sieg der deutschen Nationalelf und das Debüt eines gewissen Hans Tilkowski, damals 21 wie Faul, gegen Holland in Amsterdam im heimischen Schwarz-Weiß-Fernseher verfolgte, sie euphorisch gestimmt in eine Gaststätte nach Nürnberg-Zabo ging. Dort, nahe des alten Stadions des 1. FC Nürnberg, lernte sie zufällig zwei weitere fußballbegeisterte Frauen kennen. Noch am selben Tag beschlossen die jungen Frauen, den „1. Damen-Fußball-Verein Nürnberg“ (DFV) zu gründen. Es war der 3. April 1957.
Ein paar Tage später standen diese drei und viele weitere junge Frauen, die über das Verteilen von Handzetteln gefunden wurden, im Schlafzimmer von Helga und Erika Fauls Mutter im Nürnberger Vorort Ziegelstein. Das sollte – bis zum Ende des Fußballklubs im Jahr 1959 – die Umkleidekabine der Fußballerinnen bleiben.
Mit der Straßenbahn kamen die Frauen damals an, zogen sich im Schlafzimmer um, die Stollen klapperten beim Verlassen des Hauses und der etwa zehnminütige Marsch durch ein Wäldchen zum Platz wurde eher zu einem Spaziergang und einem Plausch als zum Aufwärmen genutzt. „So eng haben wir das nicht gesehen“, sagt Helga Faul. Ihre Stimme zittert ein wenig. Das Alter und eine Krankheit nagen an ihr.
Manch ein Passant muss damals ob der Frauen in ihren knappen Fußballhosen ungläubig geschaut haben. Aber, sagt Faul: „Verachtung gab es nie.“ Trainiert wurde auf einer unbenutzten Wiese hinter dem Gelände einer Nürnberger Fabrik. „Naja, freilich könnt’s dort trainieren“, hatte der Direktor der Firma Helga Faul geantwortet, als diese um Erlaubnis gefragt hatte. Im Gegensatz zu den Verantwortlichen der FC Bayern Kickers, für die Helga und Erika Faul zeitgleich Handball spielten. Dort waren Fußballerinnen nicht erwünscht.
Das erste Spiel des DFV wurde am 9. November 1957 in Ulm ausgetragen – gegen die bereits international erfahrene Mannschaft von Fortuna Dortmund – man verlor 0:7. Mit dabei war auch Krista Kleinhans, die bald darauf als der weibliche Helmut Rahn gelten sollte – Helga Fauls Vorbild. „Wir wussten dass wir den Dortmundern hinterher laufen werden. Das war uns aber wurscht! Wir spielten nämlich endlich Fußball!“
Einen Mann brauchten die Nürnberger Frauen aber dann doch: Josef Floritz, ein Münchener. Er trainierte den Nürnberger DFV und machte sich einen Namen, weil er bis zum Jahr 1965 etwa 150, vom DFB bis heute nicht anerkannte, Länderspiele organisiert hatte.
„Floritz war ein Idealist“, sagt Helga Faul über ihn. Später wird sie schwärmen, er sei „besessen“ gewesen. Eines Samstagmorgens stand Floritz nur mit Hausschlappen an den Füßen vor ihrer Tür. Fauls Mutter öffnete und Floritz fragte sie, wo denn die Helga sei. „Im Bett, es ist frühmorgens“, antwortete die Mutter. Das sei schlecht, sagte Floriz und packte Helga Faul an ihrer Mutter vorbei in einen wartenden Bus. Floritz hatte ein spontanes Spiel in Pfaffenhofen organisiert.
Der Münchener muss ein Fan von Helga Faul gewesen sein, ihre Reflexe, ihre Schnelligkeit geschätzt haben. Deswegen war sie auch bald ein Kandidat für die Nationalelf, in der eigentlich eher westdeutsche Fußballerinnen kickten. Und so kam es, dass Helga Faul auch zu drei inoffiziellen Länderspielen gegen die Niederländer kam.
Damals prägten nur vier Teams den Frauenfußball: Deutschland, Holland, Österreich und England. Das erste Spiel gegen die Elftal aus dem Nachbarland endete am 19. April 1958 in Mannheim 0:5, einen Tag später rang man ihnen dann aber vor stolzen 6000 Zuschauern im Stuttgarter Neckarstadion immerhin ein 2:2 ab.
Vielleicht hätte ja Mitte der 60er Jahre Frauenfußball bereits Konjunktur haben können – hätte der DFB mitgespielt. Helga Faul sagt jedenfalls: „Nach Länderspielen sind uns die Burschen hinterhergelaufen, wollten Autogramme von uns.“
Der DFB hat sich bis heute nicht bei Helga Faul gemeldet, ihr vielleicht eine Reise zu einem WM-Spiel angeboten, wie es in der Vergangenheit häufig mit verdienten Spielern gemacht wurde. „Das wäre angebracht“, sagt Helga Faul. Ihre Schwester nickt.
Helga Faul wird dann wieder ein wenig aufmüpfig, bekommt einen harten Gesichtsausdruck. Obwohl sie nicht einmal wüsste, ob sie ein Angebot seitens des DFB annehmen könnte. Denn wegen einer schweren Krankheit darf sie nicht fliegen, eine Bahnreise ist wohl zu beschwerlich. Doch allein eine Geste würde ihr wohl genügen.
Zum letzten Mal trat Faul mit ihrem DFV am 13. September 1959 an. Damals ging es in Sarajevo gegen den Sozialistenclub Roter Stern Belgrad. Endstand: 3:13. Eine dortige Zeitung schrieb über die Nürnberger Mannschaft um Helga Faul, sie hätten „katastrophal“ gespielt.
Trotz der vielen Niederlagen in den gut 20 Partien sagt sie über ihre Klub-Karriere, diese sei die glücklichste Zeit ihres Lebens gewesen. Kurz nach dem Spiel in Sarajevo hat sich Josef Floritz aus dem Nürnberger Fußball zurückgezogen. Die Gründe sind unklar. Der DFV konnte ohne seine Passion und finanzielle Unterstützung keine Spiele mehr organisieren. Helga Faul spielte bald darauf nur mehr Handball, der Nürnberger Frauenfußballsport schlief ein.
Heute ist vieles anders. Der Rollator ist eine Stütze in ihrem Leben geworden, so wie es der Ball an ihren Füßen früher war. Der Weg von der Gaststätte, in der sie täglich essen geht, nach Hause in ihre Wohnung nahe des Eichenwalds ist beschwerlich. Irgendwann sagt sie plötzlich: „Vielleicht wird’s ja doch noch was mit einem vierten Länderspiel“ und blinzelt kurz schelmisch.
Die Spiele der Weltmeisterschaft schaut sich Helga Faul natürlich im Fernsehen an. Vorausgesetzt, ihr Arzt oder eine der vielen Beerdigungen in vergangener Zeit machen ihr einen Strich durch die Rechnung. Anrufen sollte man sie während einer WM-Übertragung übrigens nicht, denn dann kann Helga Faul nämlich ganz schön borstig werden. Marco Maurer