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Die Lehren des Waldes

Aborigines und Touristen: Da prallen Welten aufeinander, doch manchmal kommt etwas Gutes dabei heraus

Die Frage ist erst kaum zu verstehen, auch der spärlich bekleidete Aborigine auf der Bühne reagiert verblüfft und lächelt ein wenig schief. Ein kleiner Junge im Publikum hat gefragt: „Wohnst du im Wald?“ Der Mann stemmt seine beiden Fäuste gegen die Taille und erklärt: „Nein, ich wohne in der Stadt, besitze ein Haus, ein Auto und eine Spielkonsole.“ Dann fragt er schnippisch: „Hast du denn eine Spielkonsole?“ Das Kind schweigt, das Publikum lacht beschämt.

Die Szene spielt sich im Tjapukai-Aboriginal Cultural Park nahe Cairns ab, könnte sich aber fast überall zutragen, wo in Australien Massentourismus und Aborigines aufeinandertreffen. Der General Manager und 60 der 80 Beschäftigten von Tjapukai sind zwar Ureinwohner, ihr vor 24 Jahren gegründeter Park aber hat sich zu einem Fast-Food-Betrieb für Aborigines-Kultur entwickelt. Hier wird in Musical-Manier die durchchoreographierte Hülle einer jahrtausendealten Kultur präsentiert – der Regentanz, der Lendenschurz, die Bemalung, der Speer, der Urschrei.

Manchmal funktioniert das Aufeinandertreffen von Aborigines und Tourismus aber auch viel besser, wie etwa bei Willie Gordon, einem Mitglied des heute noch etwa 100 Familien umfassenden Stammes der Guugu Yimithirr. Um ihn zu besuchen, muss man allerdings den Schritt hinaus aus Cairns wagen und gut vier Stunden den etwas öden Mulligan Highway entlangfahren. Schöner ist es, man lässt sich über die in allen nur erdenklichen Grüntönen leuchtenden Regenwälder Queenslands fliegen und am vielleicht kleinsten Flughafen der Welt in der nördlichsten Stadt Australiens absetzen, in Cooktown.

Hier erwartet einen dann bereits Willie Gordon, der nur bei seinem Vornamen genannt werden will und alles hat, was ein Mann haben muss: feste Waden, einen Bart und einen Bauch, auf dem Kinder gerne ihre ersten Hüpfübungen vollziehen, wenn er eine seiner vielen Geschichten erzählt. Das macht er gerne, was gut zu dem Amt passt, das er innehat. Er ist ein „Elder“ der Guugu Yimithirr, ein Lehrer, der die Aufgabe hat, Wissen innerhalb seines Stammes weiterzugeben. Dass er sein Wissen auch mit Touristen teilt, sehen nicht alle Guugu Yimithirr gerne. Denn die Geschichten sollen innerhalb einer Gemeinschaft verbleiben. Willie aber sagt: „Lieber sind Geheimnisse keine Geheimnisse mehr, sonst werden sie zu sehr geheimen Geheimnissen“, und stößt sein etwas schmutziges, aber stets sympathisches Lachen aus.

Vier Stunden dauert die Wanderung mit Willie, zwischen Küste und Regenwald im Nordosten Australiens. Hier ist es eher heiß und trocken, nicht unbedingt feucht. Wir bahnen uns den Weg über alte Aborigines-Pfade, sehen zig Kragenechsen, die reglos in der Sonne liegen, schlängeln uns an menschenhohen Termitenhügeln vorbei, laufen durch wuchtige Felsformationen hindurch. Eukalyptusbäume und tropische Früchte verströmen ihren für europäische Nasen mysteriösen Duft. Willie, der indigene Märchenonkel, bleibt oft stehen, riecht an diesem, schnuppert an jenem Blatt. Dann greift er auf den Boden, lässt eine Hundertschaft grüner Ameisen über seine Hand laufen und nimmt ein paar davon in den Mund. Sie schmecken und riechen wie Limetten, knacken aber beim Verzehr. „Hilft gegen Halsschmerzen“, sagt Willie. Ein wenig später reibt er ein Blatt eines Busches mit ein wenig Wasser zu einer stattlichen Portion Schaum zusammen und sagt: „Aborigines-Seife.“

Nach etwa zwei Stunden Marsch kommen wir an eine ockerfarbene Sandsteinhöhle, in der Willie feierlich ein weiteres Geheimnis verrät: „Hier wurde vor knapp 80 Jahren mein Vater geboren.“ Die Höhle ist nicht größer als ein durchschnittliches deutsches Wohnzimmer, hierher kamen einst die Frauen des Stammes, um ihre Kinder zur Welt zu bringen, ohne Hilfe und vor allem ohne ihre Männer. Die Frauen anderer Stämme gebaren in Wasserlöchern oder unter Wasserfällen. Heute ist das per Gesetz verboten. Nur noch Fels-Malereien zeugen von dieser Zeit.

In der Geburtshöhle der Guugu Yimithirr ist eine mit Lehm aufgetragene Frau zu sehen, die ihre Beine spreizt, aus ihrer Mitte lugt bereits ein kleines Bein hervor. Eine Geburtsszene. Willie erzählt von der spirituellen Verbindung der Aborigines zu ihrem Geburtsort. Deshalb habe sein Volk auch oft Schwierigkeiten, sich in Städten zurechtzufinden. „Sie haben die Verbindung zur Natur und somit zu sich selbst verloren.“

Die Lebenserwartung von Aborigines liegt 17 Jahre unter der von weißen Australiern. Die Gründe dafür sind Identitätsprobleme, Alkoholismus und eigentlich heilbare Krankheiten, die aber nicht behandelt werden. Auch Arbeitslosenzahl und Suizidrate sind in den Ureinwohnergemeinden oftmals höher.

Auf dem Rückweg erzählt Willie von seinem Bruder Bertie. Der hatte ihn einmal zum Dinner eingeladen, holte ihn ab und sagte: „Warte kurz im Auto.“ Wenig später kam Bertie mit Tomaten, Lammfleisch, Pizza, Früchten und sogar Roastbeef zurück – aufgesammelt aus den Abfallcontainern eines Supermarktes. „Ist unser Land nicht ein reiches Land?“, fragte er, als er ins Auto stieg. Willie sagt, dass auch heute noch viele Aborigines wie sein Bruder lebten. „Sie unterwandern das System.“ Das Geld vom Staat mache sie antriebs- und würdelos, und außerdem werde es häufig nur in Alkohol investiert. Bertie ist vor 20 Jahren gestorben. An Leberzirrhose.

Willie hat eine andere Karriere hinter sich. Er half alkoholkranken Jugendlichen in der Großstadt Brisbane und besuchte später vom Staat geförderte Workshops, die ihm den Einstieg ins Tourismusgeschäft erleichtern sollten. „Dort habe ich aber nur gelernt, wie Workshops ablaufen, und nicht, wie indigener Tourismus gelingt“, sagt er. Dazu brauchte es eine Begegnung mit der Engländerin Judy Bennett.

Judy Bennett wohnt seit 2002 in Cooktown. Nach der Tour sitzt sie zusammen mit Willie am Tisch des feinen örtlichen Fish-and-Chips-Restaurants „Cooktown Bowls Club“. Bennett ist Willies Geschäftspartnerin, ihre Doktorarbeit schrieb sie darüber, wie Tourismusangebote bei Urbevölkerungen funktionieren könnten. Sie kam zu folgenden Schlüssen: An einem erfolgreichen Start-up darf niemals der ganze Stamm beteiligt sein. Denn die Gemeinschaft erwarte, dass alles mit jedem geteilt wird. Das führe zu Streit und Missgunst. Und: Die Regierung solle den Aborigines keinen Gründungskredit auszahlen. „Der einzige Anreiz der Aborigines ist sonst der Kredit und nicht, ein funktionierendes Geschäft zu etablieren“, sagt Willie.

Etwa fünf Autostunden entfernt, die Luft wird drückender und feuchter, steht im Regenwald die Daintree Eco Lodge. Das Sonnenlicht dringt kaum durch die dichten Blätter, nur in den Baumdächern schimmern die sonnengefluteten Palmwedel im Gegenlicht. Lianen hängen an einem kleinen Bach herab, der sich lautstark seinen Weg durch das Unterholz ebnet. Seit 1995 nennt Terry Maloney dieses Stück Natur und das dazugehörige Hotel sein Eigen. Der ehemalige Rugbyprofi und seine Frau Cary beschlossen, nachdem sie beide an Krebs erkrankt waren, eine ruhigeres Leben abseits der Millionenstadt Brisbane zu suchen. Sie fanden zwei Dinge: den Wald, der ihnen Ruhe gab, und die Aborigines, deren genügsames Leben sie faszinierte. Daraus entwickelten sie ein Hotel, dass diese Dinge vereint. Die Urwald-Saison bestimmt den Speiseplan, es gibt Beeren, Fisch, manchmal Krokodil, die Massagen werden mit Regenwald-Essenzen angereichert. Zudem beschäftigen die Maloneys sieben Aborigines.

Es war ein langer Weg, bis die Angestellten ihre Skepsis verloren. „Sie hatten auch keinen Grund, uns zu vertrauen“, sagt Terry Maloney. Er weiß, dass sein Hotelkonzept ohne das Wissen der Aborigines nicht funktioniert hätte. „Wir unterstützen und beschneiden die Aboriginal-Kultur gleichermaßen, aber immerhin machen wir etwas“, sagt Maloney. Außerdem hätten die Aborigines hier die Möglichkeit, genau dort zu leben und zu arbeiten, wo sie es gewohnt sind: in der Natur.

Zwei der drei Töchter der Maloneys sind mit Aborigines verheiratet. Eine steht gerade hochschwanger an der Rezeption. Solche Ehen sind nach wie vor selten in Australien. Und häufig unerwünscht. „Den meisten hier geht das gegen den Strich, so weit ist es leider noch nicht“, sagt Maloney.

Dazu brauche es mehr als Tourismus, es brauche eine Begegnung auf Augenhöhe im Alltag. Da passt es gut, dass er versprochen hat, das Hotel einmal den Aborigines zu vererben. Er weiß, das Land auf dem es steht, gehört eigentlich noch immer ihnen. Marco Maurer