Tages-Anzeiger
«Vorbereitet zu sein – das ist die Kultur der Schweiz»
Gleich neben dem Berner Wankdorf liegt das Bundesamt für Bevölkerungsschutz. Dort arbeitet Daniel Jordi. Der 56-Jährige ist «Zivilschutz-Chef des Bundes» und beschäftigt sich mit Kriegen, Katastrophen und Notlagen. Zuvor war der studierte Chemiker verantwortlich für das Labor Spiez und damit für den Schutz vor atomaren, biologischen und chemischen Gefahren in der Schweiz. Nun kümmern er und sein Team sich um baurechtliche und konzeptionelle Vorgaben für Schutzräume und militärische Schutzanlagen in der Schweiz.
Herr Jordi, viele nennen Schutzräume umgangssprachlich Bunker. Experten wie Sie stört das Wort. Warum?
Das Wort «Bunker» klingt nach einer bewaffneten militärischen Verteidigungsanlage – und nicht nach einem Raum, der unsere Bevölkerung vor Gefahren schützt. Aber ich bin Chemiker und kein Germanist.
Wäre es richtig, zu sagen, dass das, womit Sie täglich zu tun haben, am besten nie gebraucht wird?
Das ist richtig, denn es bedeutet: Wir haben keine Katastrophen und keinen bewaffneten Konflikt im Land.
Wie lebt es sich mit dieser beruflichen Überflüssigkeit?
Das ist kein schlechtes Gefühl, weil die Herausforderung ist, die Schutzräume in guter Qualität zu erhalten. Herrscht Frieden, muss ich den Menschen schon manchmal sagen: Ja, gut, ihr wisst, das kann nicht immer so sein. Die Menschen fühlen sich sicher, ein bewaffneter Konflikt in Europa schien für viele bis zur veränderten globalen sicherheitspolitischen Lage unmöglich. Seither ist die Sensibilität der Bevölkerung wieder eine andere.
Nirgendwo gibt es so viele Schutzräume auf der Welt wie in der Schweiz, 370’000. Diese bieten rund neun Millionen Menschen Platz, dem ganzen Land. Gehören «Bunker» zur kulturellen Identität des Landes?
Ich glaube, vor allem die Verantwortung gegenüber der Bevölkerung, diese adäquat zu schützen, gehört dazu. Vorbereitet zu sein – das ist die Kultur der Schweiz. Die Schutzräume sind ein Produkt dieser Philosophie.
Auf Berge und Banken ist die Schweiz stolz. Auch auf ihre Schutzräume?
Früher war das so – und die ältere Generation ist immer noch stolz auf diese Bauwerke. Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs geboren worden sind oder zumindest Eltern gehabt haben, die diesen und den Kalten Krieg erlebt haben, sind sich des Wertes der Schutzräume bewusst.
2011 wurde die sogenannte Schutzraumpflicht fast abgeschafft, also dass bei Neubauten verpflichtend ein solcher Raum eingeplant werden muss. Doch nach der Atomkatastrophe in Fukushima wurde das verworfen.
Ich bin überzeugt, dass wir das System benötigen und dass wir stolz darauf sein können. Aber es gab schon auch eine Zeit, in der Menschen dachten: Wer braucht so etwas heutzutage noch? Es waren auch viele falsche Informationen im Umlauf, es hiess, es sei ein teures System. Dabei kostet ein durchschnittlicher Schutzplatz in der Schweiz einmalig 1500 Franken. Das ist nicht teuer.
Bei neuen Einfamilienhäusern ist ein Schutzraum keine Vorschrift mehr.
Nein, aber die Eigentümer müssen einen Ersatzbetrag dafür bezahlen. Das Geld fliesst dann in öffentliche Schutzräume im Quartier oder die Erneuerung der Schutzräume. Der Betrag ist von Kanton zu Kanton unterschiedlich, mit der laufenden Revision der entsprechenden Verordnung soll der Beitrag einheitlich auf 1400 Franken festgelegt werden. Bei grösseren Wohnhäusern, ab 38 Zimmern, muss ein Schutzraum eingeplant werden.
Sind durch den Krieg in der Ukraine Schutzräume den Menschen wieder wichtiger geworden?
Viele Menschen fragen sich seither: Wo ist mein Schutzraum? Warum habe ich den? Wozu dient er?
Wie sieht ein durchschnittlicher Schweizer Schutzraum aus?
Es gibt kleine, die bis zu sieben Menschen fassen, mittlere, in die rund 25 bis 50 gehen und die grossen in einem Quartier, die zwischen 200 und rund 1000 Menschen Platz bieten. Für jeden Menschen wird ein Quadratmeter Platz einkalkuliert.
Das ist sehr eng.
Es geht nur um das Ziel, zu überleben.
Da müssen die Leute schon auch sehr …
… diszipliniert sein.
Ein Chaot ist vielleicht zu handlen, aber sieben würden schwierig werden, oder?
Das würde sich nicht vertragen.
Wie ist ein Schutzraum ausgestattet?
Er ist selbstverwaltet, hat einen Notausgang, dreistöckige Betten und eine Trockentoilette, also ein Kübel, in dem Plastiksäcke drin sind. Man nimmt sich einen, macht sein Geschäft, verknotet den Sack und legt ihn unten in den Kübel. Das ist eine hygienische Angelegenheit, ohne Wasser. Damit vermeiden wir Krankheiten und Seuchen. Wichtig ist auch, dass der Schutzraum eine Lüftungsanlage hat, Luft ist knapp bemessen. Er hat zudem ein Explosionsschutzventil und ein Panzertor. Im Ereignisfall wird das geschlossen, dann muss die Lüftung in Betrieb sein, damit man Frischluft hat. Ist die zugeführte Luft verschmutzt, bei Kampfgas etwa, kann man auf Filterluft stellen.
Wie lange kann man im Notfall unten bleiben?
Im Prinzip solange man Essen und Wasser hat. Wir rechnen im Moment damit, dass man jeweils einige Stunden bis vielleicht wenige Tage drin sein muss.
In der Ukraine ziehen sich die Menschen meist für ein paar Stunden zurück. Gibt es aus diesem Angriffskrieg Lerneffekte?
Es war grundsätzlich auch in der Schweiz angedacht, dass man je nach Situation nur für kurze Zeit in die Schutzräume geht und dann zwischendurch wieder hoch; die Situation in der Ukraine bestätigt, dass dies eher die Regel sein dürfte. Was wir aber in der Ukraine sehen können, ist, dass es hier in der Schweiz durch die Notausgänge deutlich weniger Tote, Verletzte und Verschüttete geben würde, weil die meisten sich dadurch selbst retten könnten und daher auch weniger Rettungskräfte gebraucht würden. Aus Kellern ohne Schutzräume kommt man nicht selbst raus. Die Trümmer müssten weggeräumt werden.
Bei einem Luftangriff sind Pendler, die unterwegs oder bereits an ihrem Arbeitsort sind, heisst es, am meisten in Gefahr. Ist das richtig?
Das stimmt insofern, weil sie sich nicht in der Nähe ihres Schutzraums aufhalten. Bürogebäude haben in der Regel keine solchen Räume. Derzeit machen wir uns Gedanken dazu, wie diese Menschen besser geschützt werden könnten. Mehr kann ich momentan nicht dazu sagen.
Wissen Sie denn, wo zu Hause Ihr nächster Schutzraum ist?
In meinem Keller. Ich lagere dort Wein in mobilen Regalen. Ich kann den Schutzraum innerhalb von zwei Stunden leer räumen. Ich nutze ihn also wie viele Menschen, die Wein, Bier, Konfitüre oder eingelegte Früchte aus ihrem Garten dort aufbewahren. Das ist genau die Idee des Systems: etwas bauen, was man auch im Alltag brauchen kann.
Gibt es eine Pflicht, wie schnell man den leer geräumt haben muss?
Wenn bei einem bewaffneten Konflikt die Behörden entscheiden, den Bevölkerungsschutz zu erhöhen, hat man fünf Tage Zeit.
Was ist nicht erlaubt?
Es gibt Leute, die bauen Saunas ein. Das ist illegal. Alle zehn Jahre müssen die Schutzräume durch die Kantone oder Gemeinden überprüft werden. Spätestens dann fliegt das auf.
Hat man selbst keinen im Keller, sollten wir wissen, wo der nächste öffentliche Schutzraum ist?
Die Lage wird kommuniziert, wenn es nötig wird. Es gibt eine Zuweisungsplanung durch die Kantone und Gemeinden.
Also sollten wir es nicht wissen?
Es ist schwierig, heute eine Planung herauszugeben, wenn sie erst in 20 Jahren gebraucht wird. Ein grosser Anteil der Bevölkerung ist in diesem Zeitraum umgezogen, würden vielleicht Menschen in einen anderen Raum wollen und bei Bedarfsfall den Bezug erschweren, weil die Leute an den falschen Ort gehen würden.
Der Schweizer Bestsellerautor Rolf Dobelli meint, die Überlebenschancen wären in einem solchen Raum im Falle eines Krieges klein, weil meuternde Banden umherziehen würden und eindringen könnten. Hat er recht?
Die Schutzräume schützen die Bevölkerung vor Waffeneinwirkungen von aussen, der Raum erhöht dadurch die Überlebenschancen deutlich. Ist die Gefahrenlage vorbei, können die Schutzräume wieder verlassen werden. Zur Verteidigung gegen die von Dobelli geschilderten Bedrohungen braucht es aber das Militär und die Polizei. Die Räume schützen gegen Bomben und Raketen, gegen chemische, biologische Gefahren und Auswirkungen von atomaren Bedrohungen – dafür sind sie konzipiert. Wenn man mit Raketen angegriffen würde, kann man dort rein und ist geschützt.
Superreiche wie Elon Musk, Peter Thiel und Mark Zuckerberg sollen sich «Bunker» bauen oder gebaut haben, um dort überleben zu können, sollte es zu einem globalen Zivilisationskrieg kommen. Sie stehen im Gegensatz zur Schweizer Philosophie, in der jeder ein Plätzchen bekommt. Wie sehen Sie solche Entwicklungen?
Für mich ist jede Einwohnerin und jeder Einwohner in der Schweiz gleich schützenswert.
In Deutschland gibt es für 85 Millionen Menschen etwa rund 480’000 Plätze. Was denken Sie über so eine Zahl?
Ich weiss, dass die Behörden in Berlin sich bemühen, diese Zahl zu erhöhen, und das wäre den Deutschen sicherlich zu wünschen.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat aufgrund der Situation in der Ukraine eingeräumt, dass es nicht genügend von diesen Plätzen gebe. Der deutsche Katastrophenforscher Martin Voss hat in einem Interview gesagt: «Für einen sicheren Bunker müsste ich in die Schweiz fahren.» Auch Neubauten in Polen müssen ab 2026 mit Schutzräumen ausgestattet werden. Wird die Schweiz beneidet?
Ich spüre eher Bewunderung für die Vorausschau in der pragmatischen Politik, die die Schweiz seit Jahrzehnten fährt und auch, dass wir in aller Konsequenz ein System gebaut haben, das mit minimalen Mitteln einen maximalen Schutz bietet.
Also der grosse Kanton ist in dem Fall die Schweiz?
(lacht) Das kann man so sagen. Die Schweizer Schutzbauindustrie ist weltweit führend. Wir haben dieses System erfunden, bauen und unterhalten es. In der Schweiz wurde sehr viel zu diesem Bereich geforscht. Wir haben ein sehr tiefgründiges Fachwissen. Und alle Bauteile eines Schutzraums müssen vom Labor Spiez, das Teil des Bundesamts für Bevölkerungsschutz ist, zugelassen worden sein. Auch Länder ausserhalb der Schweiz lassen ihre Bauteile dort überprüfen.
Neben Schokolade und Uhren sind «Bunker» Schweizer Exportschlager?
Unser Wissen dazu und Komponenten werden in die ganze Welt exportiert. Verschiedene Länder wie Singapur oder Israel haben ebenfalls umfassende Systeme, um ihre Bevölkerung vor den Auswirkungen von Waffen zu schützen.
Glauben Sie, dass in Zukunft «Bunker« nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis wieder wichtiger werden könnten?
Hier würde ich gerne den Joker ziehen.