NZZ am Sonntag
Neutralität ist…
Ich verabscheue Krieg. Ich verabscheue Gewalt, Mord, Vergewaltigungen, Diktaturen, Leid, Lügen und Waffenfirmen.
Ich bin Pazifist.
In Deutschland habe ich den sogenannten Wehrdienst, den es früher noch gab, aus diesen Gründen verweigert. Ich war also nicht beim Militär. Ich habe mich damals auf mein Gewissen berufen. Es ist eine Formalie gewesen. Aber eine, die mich, ein Teenager damals, erstmals dazu zwang, über Krieg und Frieden nachzudenken.
Derzeit, und der Krieg in der Ukraine ist in seinem neunundneunzigsten Tag, müssen wir immer wieder über den Krieg nachdenken.
Meine Gedanken dazu schmerzen mich seit längerer Zeit. Denn ich bin mittlerweile dafür, Waffen an die Ukraine zu liefern, direkt. Hätte ich die Gelegenheit und den Mut dazu, ich würde vermutlich sogar Wladimir Putin ermorden. Beide Sätze stehen entgegengesetzt zu meinen Grundsätzen, die ich in den ersten drei Zeilen mit Ihnen geteilt habe. Aber ich fürchte, es geht nicht anders.
«Der Bundesrat blockiert weiterhin Waffenlieferungen in die Ukraine», schreibt vor ein paar Stunden die NZZ, «Keine Waffen für die Ukraine» der Blick, «Schweiz blockiert Panzer für Ukraine» die SRF.
Das ist mein sechstes Jahr insgesamt in der Schweiz. Ich kenne das Land, für einen Nicht-Schweizer jedenfalls, ganz gut; und nicht nur weil ich hier «Gipfeli» zum «Croissant» sage. Ich verstehe Mundart, die Obsession in Sachen Zugfahrten, Mülltrennung und direkter Demokratie. Ich kenne die ausgeprägten Kämpfe zwischen links und rechts hier. Und ich weiss, Neutralität ist für Ihr Land eine wichtige Sache, es berührt Ihre Identität (im Alltag glaube ich sie in Ihrer manchmal zurückhaltenden Art zu entdecken). Aufgrund dieser Neutralität liefert die Schweiz keine Waffen an die Ukraine, weder direkt noch über Länder wie Deutschland und Dänemark.
Die deutsche Verteidigungsministerin und Sozialdemokratin Christine Lambrecht und der deutsche Vize-Kanzler Robert Habeck von den Grünen fordern die Schweiz aber seit längerem dazu auf, diese Haltung, die zudem auch im Kriegsmaterialgesetz festgeschrieben ist, zu überdenken. Gerade Habecks Partei hat bewiesen, sie kann mit ihren Grundsätzen, die in der Friedensbewegung verankert sind, brechen. Sie hat sich spätestens jetzt von einer pazifistischen Ökopartei zu einer pragmatischen Partei der Verantwortung gewandelt. Sie hat ihren Teenager-Eid schweren Herzens abgelegt.
Der Bundesrat wird nun in diesen Tagen, vermutlich schon morgen, dem hundertsten Tag des Krieges also, nochmals über die Waffenfrage beraten. Es heisst aber bereits, die Schweiz werde bei ihrem «Nein» bleiben. Ist dem so, bleibt mir nur, ganz ohne Zurückhaltung und radikal subjektiv, zu sagen, ich wäre enttäuscht von diesem Land, in dem ich nun wieder lebe.
Es würde sich aus seiner Verantwortung stehlen und müsste sich nicht nur von mir zwei ganz bittere Fragen gefallen lassen: Macht sich die Schweiz gerade mitschuldig? Leistet sie mit ihrer Neutralität aktive Mithilfe an den Verbrechen Putins?
Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Newsletter «Und wie war Ihr Tag» des «NZZ Magazins».