NZZ am Sonntag
Als ich mit Roger Köppel Zug fuhr
Eigentlich hatte ich mir für diesen Newsletter eine Aufgabe gesetzt, nämlich gestern im Zug von Zürich nach München die «Weltwoche» zu rezensieren, sie erscheint, wie ich herausfand, immer donnerstags. Doch das Problem war – das hatte ich vorher nicht bedacht –, um sie gestern für heute zu rezensieren, musste ich sie ÖFFENTLICH im Zug lesen.
Ich schaute mich daher im Eurocity um: Mir gegenüber sass eine junge, hippe Frau mit grau-grünem Lidschatten, Zürcherin, ganz klar. Sie las ein Buch der «Spiegel»-Kolumnistin Margarete Stokowski, sozusagen der personalisierten Anti-«Weltwoche». Neben mir liess sich eine Art Designer nieder, in einem ähnlich bärtigen Alter wie ich. Alle drei trugen wir Birkenstock. Wir sahen aus wie ein Freundeskreis aus zertifizierter Bio-Baumwolle; meine Gutmenschen-Bahn-Peergroup für dreieinhalb Stunden und ich. Zuletzt setzte sich noch eine Mutter mit einem Kind rechts neben uns auf zwei der Vierersitze und kam mit den empathischen Rentnern aus Winterthur gegenüber ins Gespräch. Ich erfuhr daher, dass Mutter und Tochter aus der Ukraine waren, ihr Mann sei im Krieg, ihr Cousin gestorben.
Die «Weltwoche» hatte ich mir noch in unseren Redaktionsräumen mitgenommen. Dort, so mein Eindruck, versauert sie Woche für Woche, seltsamerweise ohne zu stinken allerdings. Die «Weltwoche» steckte also noch gut versteckt in meiner grünen Jute-Tasche. Doch ich erinnerte mich im Zug an das aktuelle «Weltwoche»-Cover, Putin war abgedruckt, rot auf weiss, Sowjet-Ästhetik. Unter seinem Kopf stand: «Verhandeln mit Putin?» Das Fragezeichen hatte nur eine Alibi-Funktion. Weiter unten auf dem Cover wurde auf einen weiteren Text verwiesen: «Die Schweiz platzt aus allen Nähten». Den empörten Artikel dazu hatte ich bereits im Vorfeld gelesen. Er wagt die These, dass die Region zwischen Genf und St. Gallen «ein Los Angeles mit Seen», also dicht besiedelt bis zum Anschlag sei. Schuld daran seien Afghanen, Zuwanderer wie ich aus Deutschland und natürlich Ukrainer und Ukrainerinnen. Die Situation sei ausser Kontrolle geraten, heisst es daher weiter, sogar von einer Bevölkerungsexplosion wird geschrieben. Unter Armageddon geht es bei der «Weltwoche» nicht. Bebildert ist der Artikel mit einer Aufnahme von einem proppenvollen Oberen Letten. Nur falls Sie, liebe Leserin, lieber Leser, sich wundern, warum es in der Badi also wieder so eng zugeht gerade, Roger Köppels Wir-haben-zu-viel-Sonne-in-der-Männerbadi-abbekommen-aber-dennoch-blassen-Teint-Gang weiss Bescheid. Zudem werden auf dem Cover noch zwei Texte vorgestellt, die den Klimawandel und Frauen generell infrage stellen, zwei weitere Alltime-«Weltwoche»-Classics also.
Ich dagegen war, die Klimaanlage hatte wohl versagt, in einem extraheissen Bahnabteil und hatte meine Birkenstock-Community vor mir und die Folgen des Ukraine-Kriegs neben mir sitzen. Es kam mir unpassend vor, dieses Machwerk auszupacken (obwohl es seltsamerweise immer noch nicht stank).
Die bekannteste zeitgenössische Scham ist die Flugscham. Sie kann dann auftreten, wenn man auf die Kosten des Klimas eine Strecke im Flugzeug zurücklegt, die auch in der Bahn zurückzulegen wäre. Ferner gibt es noch, erfuhr ich in den letzten Jahren aus allerlei Publikationen, die Zucker- und die Konsumscham, die Auto- und die Fleischscham. An all die Arten von Scham habe ich gedacht, als ich gestern klimabewusst von München nach Zürich gefahren bin und mich trotzdem eine Scham befallen hat, die «Weltwoche»-Scham.
Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Newsletter und der Kolumne «Und wie war Ihr Tag?» des «NZZ Magazins».