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Gotteskinder

Mucki Pinzner wollte mehr sein als nur ein Mensch. Grenzenlos. Herr über Leben und Tod. Zwei Frauen folgten ihm bis zum großen Abgang

Der Burgtorfriedhof in Lübeck dürfte bereits einige Inszenierungen erlebt haben, nicht wenige Schauspieler und Schriftsteller wurden hier in den Gruften und Gräbern beigesetzt. Im Oktober 1986 trägt sich aber etwas zu, das einmalig in seiner Geschichte sein dürfte.
Gott lässt sich begraben.
Der Mann, der an diesem Tag beerdigt wird, schrieb über sich, dass er Leben geboren und Leben genommen habe, und
das könne ja nur eines bedeuten: „Ich bin Gott.“
Um 12.15 Uhr, ein Mittwochmittag, beginnt in der Kapelle des Friedhofs, der früher „Allgemeiner Gottesacker“ hieß, die letzte Inszenierung dieses Mannes. Der Trauerredner öffnet eine Dose Holsten-Pils und leert sie. Ein Song rumpelt aus
einem Kassettenrekorder:

So he starts to roam the streets at night
And he learns how to steal, and he learns how to fight
In the ghetto, in the ghetto

Gott hatte sich zu Lebzeiten offenbar den King, Elvis,
gewünscht. Seine Tochter Birgit, 15 Jahre alt, schwingt zu den Takten des Songs vorsichtig die Urne. Dann zieht die kleine Trauergemeinde unter den jahrhundertealten Eichen und Blutbuchen zum Grab; neben Gottes Tochter nur seine Schwester, seine Nichte und eine Horde betrunkener Rocker. Die Urne wird in die Erde gelassen. Auf ihr stehen zwei Namen:
„Mucki & Jutta.“

Wenn es die Möglichkeit gibt, bitte nimm mich mit oder wenigstens sorg dafür, dass ich tot bin.
Mein letzter Wunsch wäre, dass wir zusammen gehen. Du bist mein Gott.

Das schreibt Jutta Pinzner ihrem Mann Werner „Mucki“ Pinzner sechs Monate vor der Beerdigung in die Zelle. Sie planen eine Tat, bei der sie beide und ein Staatsanwalt sterben werden.
Es wird am 29. Juli 1986, einem Dienstag, geschehen.
An diesem Tag wird Pinzner seinen sechsten und siebten Mord begehen. Für die fünf Morde davor bekam er zu Lebzeiten Geld und einen gewissen Ruf auf dem Hamburger Kiez, für seine letzten beiden wird er die Aufmerksamkeit der ganzen Republik bekommen. Den Namen „Killer der Nation“ hat sich Gott nicht zufällig gegeben. So soll es kommen, ein triumphaler Abgang. Nicht ganz von dieser Welt.
Dafür braucht er allerdings die Hilfe von zwei Frauen. Die eine seine Ehefrau Jutta, die andere seine Anwältin Isolde. Sie, die Einzige des Trios, die heute noch lebt, wird alles zusammenhalten, Nachrichten der Eheleute in den und aus dem Knast schmuggeln, als Heroin- und Kokainkurierin arbeiten, die letzten Schüsse in Gottes Leben mitplanen und die Waffe dafür beschaffen. Gottes Plan, Gottes Abgang, Gottes Helferin.
Doch wer war Gott? Warum mordete er? Und wer ist diese dritte Frau, seine Anwältin, die der Boulevard den „Todesengel vom Kiez“ taufte?

Werner Pinzner, 1947 geboren, wächst im Hamburger Stadtteil Bramfeld auf. Seine Mutter ist Hausfrau, sein Vater Rundfunkmechaniker. Werner ist nicht dumm, aber faul. Einsatz auf der Volksschule zeigt er dennoch: Er hat immer wieder Ärger mit seinen Lehrern und Mitschülern, er erpresst sie, beginnt Streit und will ihn prügelnd zu Ende bringen. Regeln mag er nicht. Zu Hause ist es ähnlich, mal bedroht er seine Eltern mit einem Messer, mal schlichtet er ihre Rangeleien. Nach der Schule beginnt er eine Schlachterlehre und bricht sie nach einem Jahr ab. Sein Vater schickt ihn, 17 Jahre alt, auf die See. Im Herbst 1966 muss er für drei Wochen ins Krankenhaus, Messerstecherei. Zweimal scheint es so, als könnte er die Kurve bekommen. Erstmals bei der Bundeswehr, Pinzners draufgängerische Art kommt dort anfangs gut an. Allerdings steht ihm seine anti-autoritäre Haltung im Weg. Er muss die Bundeswehr verlassen. Auch hier: Grenzen akzeptiert er nicht, er empfindet sie als persönliche Kränkung. In der Folge baut er seine Strafakte weiter aus, Körperverletzung, Unfallflucht, 1970 ist er erstmals kurz in Haft.
Das zweite Mal nähert er sich einem eher kleinbürgerlichen Leben, als 1971 seine erste Frau, eine Angestellte, mit der gemeinsamen Tochter Birgit schwanger ist. Zu dieser Zeit arbeitet er, wo er was kriegen kann, als Gerüstbauer, Fliesenleger, in einem Fleischgroßhandel. Allerdings schleichen sich schnell wieder kleine Verbrechen ein, klauen, prügeln, Randale – ein stetiges Abrutschen.
Offiziell zum Schwerkriminellen wird er am 29. August 1975. Pinzner überfällt mit zwei Männern einen Supermarkt, der Geschäftsführer wird erschossen, die drei flüchten mit 1500 Mark. Pinzner bekommt zehn Jahre Gefängnis. Er hätte die Hälfte für angemessen erachtet, da er angeblich nicht gewusst hatte, dass einer der anderen eine Waffe bei sich trug. Deswegen entwickelt Pinzner in der Haft, das wird aus Vernehmungen klar, das Gefühl, zu Unrecht so lange einzusitzen.

„Sie haben mich wie einen Mörder behandelt, nun werde ich einer“, sagt er einmal – eine einfache Erklärung. Vielleicht sucht er nur eine Rechtfertigung für sein Leben, seine Verbrechen und findet sie in einem in seinen Augen ungerechten System, dem Strafvollzug. Vielleicht spricht auch nur der Narzisst aus ihm? Der, der ihn wirklich glauben lässt, er wäre gottgleich und habe sich irdischen Gesetzen nicht zu beugen.
In dieser Zeit, Mitte der 70er Jahre, treten die beiden Frauen ins Pinzners Leben, die ihn bis zu seinem Tod 1986 begleiten werden.
Jutta Pinzner, um 1947 geboren, eine schüchterne Angestellte, die Schreibarbeiten für eine Bank erledigt und aus gutem Hause stammt, lernt Pinzner 1974 in der Disco „Big Ben“ im Hamburger Arbeiterviertel Barmbek kennen. Sie mag seine gerade Art. Sie, diese hübsche, zarte und etwas bieder wirkende Frau mit großen Augen, behütet und eingezäumt aufgewachsen, verfällt ihrem Werner, den sie schnell „Mucki“ und „mein Abenteuer“, später „Gott“ und „Geilus“ nennt. Sie wird nach und nach besessener von ihm, von seiner Sexualität, fügt sich emotional wie körperlich seinen Wünschen, macht alles für ihn, will seine Aufmerksamkeit und seine Führung. Am Anfang treffen sie sich alle vier Wochen, Pinzners Frau soll nichts merken. Nachdem Pinzner wegen des Raubs in Haft muss, lässt sich seine Frau von ihm scheiden, Jutta schreibt ihm dagegen Briefe in die Zelle, besucht ihn. Im Herbst 1976 heiraten sie in Santa Fu, der Justizvollzugsanstalt in Hamburg-Fuhlsbüttel.
Isolde Oechsle-Misfeld wird 1947 in Nienburg an der Weser geboren. Ihre Familie wohnt am Rand der Stadt, ihre Eltern sind überzeugte Mitglieder der Neuapostolischen Kirche, ihr Vater ist Laienprediger. Für Isolde bedeutet das: kein Fernsehen, kein Kino, keine Hitparade im Radio. Lesen ist erlaubt, aber nur das, was die Eltern für züchtig genug befinden, so werden es Zeitungen später berichten. Es gilt, sich seinen Platz
im Himmel zu erarbeiten. Als sie 14 ist, wird ihre Schwester schwanger und aus der Familie ausgestoßen. Die Erziehung der Eltern wird strenger, Kontakt zu Nachbarn besteht kaum mehr. Zu ihrer Mutter hat sie keinen guten Draht, da die drei jüngeren Brüder im Zentrum stehen. Sie fühlt sich vernachlässigt. Spätestens nach ihrem Studium löst sie sich angeblich von der Kirche. Erst mit 23 geht sie, auch sie eine sehr schöne Frau, eine Beziehung ein. Nun, nach dem Tod ihres Vaters, ist das möglich, davor hätte sie das Gefühl gehabt, ihn zu betrügen, auch das wird später bekannt werden. 1974 besteht sie das zweite juristische Staatsexamen, ist erst angestellt und macht sich dann selbstständig. Sie und Pinzner treffen aufeinander, als er sich wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz verantworten muss und sie seine Anwältin wird. Davor bereits verteidigte sie, als würde sie sich damit aus den Zwängen ihrer religiösen Familie lösen wollen, kleinere Ganoven, Diebe und Rauschgifthändler. Ihren Mandanten vom Hamburger Kiez gefällt ihre schnippische Art. Sie ist eine Instanz für sie, eine der wenigen Frauen, die dort akzeptiert sind.
Der Kiez, das Rotlicht- und Amüsierviertel um die Reeperbahn, ist ein eigener Organismus. Sein Zentrum ist in jener Zeit der Hans-Albers-Platz, hier herrschen eigene Gesetze. Diese Gesetze durchdringen nur wenige Menschen. Deutlich sichtbar ist hingegen, wie viel Geld hier verdient wird, es zeigt sich in den funkelnden Ketten der Zuhälter und in ihren polierten Limousinen. Auch woher dieses Geld kommt, ist in den Gassen und den Laufhäusern, in denen sich die Frauen betrunkenen Kunden anbieten, leicht zu sehen. Die wichtigste Währung allerdings ist etwas anderes: Wissen und Respekt. Es gibt Herrscher und Befehlsausführende, Mächtige und Machtlose. Und Macht kann einem Menschen auf dem Kiez von einem auf den anderen Moment entzogen werden; entweder weiß er zu viel, oder er war respektlos.

Dann kann er Kiezverbot bekommen und darf sich nie wieder sehen lassen. Oder er wird sogar getötet.
Für Letzteres ist, Anfang bis Mitte der 80er Jahre, Werner Pinzner verantwortlich.
Er hat sich genauso gemausert wie der Kiez. Seine Anwältin bewirkte im Jahr 1983, dass ihr Mandant in den offenen Vollzug verlegt wurde. Im Gefängnis Hamburg-Neuengamme wird er nun resozialisiert, offiziell arbeitet er als Freigänger in einer Werkstatt, kauft sich aber gegen Geld heraus und hat den ganzen Tag Zeit, wieder Überfälle zu begehen. Im Knast hat er einen Mann namens Armin Hockauf kennengelernt, der für die Kiezgrößen Leute anwirbt. Am 18. Juni 1984 überfallen die beiden einen ADAC-Geldboten und erbeuten rund 70 000 Mark Bargeld sowie Schecks. Pinzner benutzt dabei seine 38er, die er im Gefängnis lagert, weil er glaubt, dass sie dort am besten aufgehoben sei. Die Luden sind von Pinzner angefixt, er zeigt keine Nerven, ist präzise. Bald schon nimmt ihn Hockauf mit in den Palais d’Amour, von dem später Udo Lindenberg singen wird:

Palais d’Amour
für beste Gäste nur
Sie müssen den Damen schon gefallen
die tun es nämlich nicht mit allen
Palais d’Amour

Dort wird Pinzner von Hockaufs Boss gefragt, ob er nicht
einem anderen Zuhälter einen Finger abhacken könne. Er quäle keine Leute, antwortet Pinzner. „Ich geh hin und knall ihn weg.“ Der Boss ist verblüfft. Tags darauf einigt er sich mit Pinzner, 40 000 Mark für einen Mord.
Am Vorabend des 7. Juli 1984 fahren Hockauf und Pinzner, beiden wurde Hafturlaub genehmigt, nach Kiel, sie kundschaften den Bordellbesitzer Jehoda Arzi aus, dessen Etablissements in Süddeutschland immer mehr Kundschaft anziehen, was wiederum einigen Freunden der Hamburger
Zuhälter Sorgen bereitet. Hockauf und Pinzner klingeln am Morgen darauf bei ihm. Arzi öffnet die Tür, Pinzner, der seinen Blaumann aus der Werkstatt trägt und darin aussieht wie ein Elektriker, schiebt ihn in die Wohnung. Er setzt seinen Revolver an Arzis Kopf an, schießt. Der Mann ist tot – und die beiden Hamburger kehren noch am selben Abend pünktlich in ihre Zellen zurück. Nur vier Tage später wird Pinzner nach knapp zehn Jahren Haft entlassen.
Noch in den 60er und 70er Jahren ging es auf dem Kiez hart, aber beinahe anständig zu, doch dann, sagen die, die damals dabei waren, habe sich das Viertel rasend schnell gewandelt. Der erste Beschleuniger war eine Krankheit, Aids wurde 1981 entdeckt, die Puffgänger bekamen Angst und blieben weg, den Bordellbetreibern versiegte die Geldquelle. Sie entdeckten eine neue, den zweiten Beschleuniger, Kokain, „die weiße Dame“, und wurden zu Großdealern. Das Klima kühlte ab – Schießereien, Messerstechereien, Morde wurden plötzlich Alltag, und nun, Mitte der Achtziger, wähnt sich die Polizei inmitten eines Krieges, und die Zuhälter schnupfen ihn sich bunt.
Die GMBH, auf der einen Seite der Reeperbahn, hat das Sagen, die Nutella-Bande, auf der anderen Seite der Reeperbahn, will es haben. Gerd Glissmann ist das G der GMBH, ein Akronym aus den Mitgliedern der Bande, der schöne Mischa ist das M, Walter „Beatle“ Vogeler das B, Harry Voerthmann, „der Hundertjährige“, das H. Die Zuhälter tragen ihre Spitznamen genauso selbstbewusst wie ihre Statussymbole: goldene Rolex, goldene Halsketten und goldene Girls. Der eine fährt ein weißes Rolls-Royce-Cabrio, der andere eine Corvette oder einen Lamborghini. Das größte Statussymbol ist jedoch, eine eigene Etage in einem der Etablissements zu besitzen – heißen sie nun „Salon Bel Ami“, „Salon Mademoiselle“ oder „Relax“. In guten Zeiten soll die GMBH einen Jahres- umsatz von 100 Millionen Mark gemacht haben.
Neben der GMBH und der Nutella-Bande gibt es eine dritte Macht im Kampf um den Kiez, die Chikago-Bande, benannt nach ihrem Treffpunkt, der früher ein Eiscafé war und nun eine Bar ist, samt darüberliegendem Bordell. Eine der zentralen Figuren der Chikago-Bande ist der „Wiener-Peter“, Peter Nusser, ein Österreicher, Betreiber einer Etage im „Palais d’Amour“. Er ist der Boss von Hockauf und Pinzner, stiftete sie sowohl zum ADAC-Überfall als auch zum Mord am Kieler Zuhälter Arzi an. Nussers Chikago-Bande gilt als eine der gefährlichsten Gruppen. Die Nutella-Bande wird dagegen anfangs nicht ernst genommen, die anderen scher- zen, dass deren Mitglieder erst mal Nutella-Brote essen sollten, um groß zu werden. Ihren Namen hat die Bande auch deshalb bekommen, weil ein paar ihrer Mitglieder schwarz sind, etwa Waldemar Dammer, genannt „Neger-Waldi“. Der Sohn eines amerikanischen Soldaten betreibt unter anderem das „Hollywood“ im Eros-Center, Reeperbahn 170. „Wiener-Peter“ will sich an ihm rächen, da er von Dammers Männern vermöbelt wurde – im eigenen Bordell.
Am Ostermontag 1985, knapp ein Jahr nach dem Mord an Arzi, fährt Werner Pinzner zusammen mit einem Komplizen nach Hamburg-Schnelsen. Es ist gegen 16 Uhr nachmittags, Regenwetter, Pinzner trägt seine verbeulte Jogginghose, in deren Taschen eine Waffe nicht auffällt. Kurze Zeit später sitzen die beiden in Dammers Büro. Dann fallen fünf Schüsse, drei davon treffen Dammer in den Kopf. Die Wucht lässt seinen durchtrainierten Körper auf dem Bürostuhl zur Seite kippen. Die anderen Kugeln treffen seinen Wirtschafter in Hals und Kopf. Beide Männer sind sofort tot, und Werner Pinzner ist um 30 000 Mark reicher.
Es wird schneller gestorben, heißt es zu dieser Zeit auf dem Kiez. Und dafür sorgt immer häufiger Werner Pinzner, der sich mittlerweile auch vor anderen „Gott“ nennt. Wenn er die weißen Handschuhe, sein Markenzeichen, überstreift und in seinem Dreier-BMW – silbermetallicfarben, Spoiler, Chrom und Recaro-Sportsitze – über den Kiez fährt und jemanden zu lange anschaut, wird es nicht wenigen unangenehm kalt.
Dammer und sein Wirtschafter waren Pinzners viertes und fünftes Opfer, mindestens.
Im September 1984 hatte er in Nussers Auftrag einem klei- nen Zuhälter namens „Bayern-Peter“ in dessen Pontiac einen Kopfschuss verpasst, für 15 000 Mark und die Aussicht auf eine Beteiligung am „Palais d’Amour“. Keine zwei Monate später war er nach München gefahren, um „Lackschuh-Dieter“, einen unbequemen Geschäftspartner von Nusser, auf einem einsamen Waldweg zu erschießen. Der Lohn: 30 000 Mark.
Pinzner wohnt nun in der Steilshooper Straße 77 in Hamburg-Barmbek, in einer Zweizimmerwohnung. Meistbenutz- tes Möbelstück ist das Cordsamtbett im Wohnzimmer, er teilt es mit seiner Tochter Birgit, seiner Frau Jutta und einem schwarzen Mastino, einem doggenartigen Hund. Pinzner trägt zwar eine Rolex und fliegt nach Ibiza, aber sein Geld reicht bei Weitem nicht, um mit dem eigens auf die Insel verfrachteten Auto herumzukurven, wie es die wahren Kiezgrößen tun. Pinzner ist Mittelmaß – mittelgroß, mittelblond, von mittelmäßiger Figur, hat mittelviele Haare. Manche werden später sagen, er sei strohdumm gewesen, andere werden sich an einen cleveren Kerl erinnern, der nicht nur „Spiegel“, stern und „Taz“, sondern auch Psychologiebücher gelesen und abends Yoga praktiziert habe.
Wahrscheinlich ist, dass Pinzner intelligent, aber nie gefördert worden ist. In der Haft ist er den Grünen beigetreten, weil die sich für einen offenen Strafvollzug einsetzen. Er spricht den Slang der Hamburger Straße, hat sich aber auch Wendungen wie „psychosomatische Erkrankungen“ und „Vernichtungshaft“ angelesen. Auch seine Taten sind weder zu raffiniert geplant noch zu chaotisch; beides wäre aufgefallen. Pinzner ist wohl ein Mann mit einer recht guten Intuition. Er meidet mittlerweile auch den Alkohol. Aber je länger er für die Kiezgangster tätig ist, desto mehr verfällt er der weißen Dame und später dem Heroin. Auch, um seine Sucht zu finanzieren, mordet er.
Sein eigentlicher Wunsch jedoch ist es aufzusteigen, seiner Tochter ein sicheres Zuhause zu bieten. Er hofft, eine eigene Etage in einem der Etablissements zu bekommen, so wie der „Wiener-Peter“. Sein Problem: Er hat nicht den Charme der Alpha-Zuhälter.
Im Mai 1985, kurz nach dem Mord an „Neger-Waldi“, wird die Soko 855 gebildet. Die Soko unter der Leitung zweier junger Staatsanwälte stellt ein Hypothesenpapier zusammen. Auf dem Papier stehen sieben Verbrechen, unter anderem die fünf Morde. Als Täter vermuten sie Pinzner, Hockauf und Nusser. Vier der Opfer wurden mit derselben Waffe erschossen, einer 38er, von der die Ermittler annehmen, dass sie Pinzner gehört. Sie sind ihm auf der Spur, haben Hinweise von Informanten gesammelt. Allerdings möchte niemand eine Aussage unterzeichnen. Im Herbst 1985 wird Pinzner erstmals vernommen. Die Polizisten ahnen nicht, dass er in der Tasche seiner Jogginghose die 38er bei sich trägt. Nicht nur einmal greift er während des Gesprächs an den Abzug, so wird er es später anderen erzählen. Aus Mangel an Beweisen lassen die Ermittler ihn gehen. Spätestens von diesem Tag an ist Pinzner klar, dass er nicht mehr lange frei oder nicht mehr lange lebendig sein wird. Denn auf dem Kiez weiß man: Einer, der bald festgenommen wird, ist gefährlich. Nicht, dass Mucki singt.
Pinzner versucht sich in seinem Bad einen goldenen Schuss zu setzen, seine Frau Jutta hält ihn ab. Pinzner möchte lieber sterben als in den Knast. Doch die Soko 855 ist schneller. Die Wende bringt ein Kronzeuge; ein kleiner Zuhälter, der eine eidesstattliche Aussage unterzeichnet hat und im Gegenzug in den Zeugenschutz kommt.

Steilshooper Straße 77, an einem Montagmorgen, 14. April 1986, Jutta und Werner Pinzer fällt auf, dass erstaunlich viele Autos
vor dem Haus parken. Sie ahnen etwas, doch nichts passiert. Nicht am Abend, nicht in der Nacht und auch nicht am nächsten Morgen. Mittags geht Jutta Pinzner zur Apotheke. Währenddessen fingieren Zivilbeamte einen Unfall, fahren das Auto Pinzners an. Ein Polizist klingelt unter dem Vorwand, ihn über den Schaden zu informieren, an seiner Tür. Als Pinzner nur mit einem Handtuch um die Hüften öffnet, ringt der Polizist ihn zu Boden. Festnahme. Ein ikonisches Foto entsteht, der muskulöse Werner Pinzner, mit nacktem Oberkörper, abgeführt von schnauzbärtigen Männern.

Ich frage nicht danach wenn Du Dich „wegmachst“. Du hast es bestimmt, ich habe Dich abgehalten. Im Bad und so. Du warst am „sticheln“ mit der Nadel.

Das schreibt Jutta Pinzner ihrem Mann etwa zwei Wochen nach der Festnahme, in einem Kassiber, einer der geheimen Nachrichten, die sie in die Zelle schmuggeln lässt. Rund zwei Wochen später schickt sie ihm folgende Zeilen:

Ich nehme die Schuld auf mich, dass Du in den Knast gekommen bist. Obgleich es hätte anders sein sollen.

Jutta Pinzner ist abhängig von ihrem Mann. Für sie ist er wirklich Gott. In seinen Antworten wirft er ihr vor, dass er ihretwegen einsitzt, und sie entwickelt schuld- und pflichtbewusst mit ihm einen Plan. Einen, für den sie eine dritte Person benötigen: Pinzners Anwältin.
Isolde Oechsle-Misfeld wittert mit Pinzners Festnahme offenbar Geld und Ruhm. Noch am Tag seiner Festnahme schließt sie einen Deal mit einem Fotoreporter ab, 15 000 Mark für Bilder und Informationen, die dieser später an den stern verkaufen wird.
Werner Pinzner gefällt sich in der Rolle des Medienstars, gibt Interviews aus der Zelle, diskutiert mit seiner Anwältin, ob Götz George ihn vielleicht in einer Verfilmung mimt. Untergebracht ist Pinzner im Untersuchungsgefängnis – und er wird von der Soko 855 bei Laune gehalten. Das Essen lässt er sich aus dem Hotel Atlantic liefern, seine Frau darf bei Vernehmungen neben ihm sitzen. Nur drei Stunden nach Pinzner bei seiner Festnahme. Er hat sich überwältigen lassen seiner Festnahme hat er dem Staatsanwalt der Soko 855, Wolfgang Bistry, gesagt:
„Ich stehe nackt vor Ihnen. Ich habe achtmal gemordet und werde alles sagen, wenn ich noch einmal 24 Stunden allein mit meiner Frau sein kann.“
„Wir werden sehen, was sich machen lässt“, hat Bistry geantwortet.
Natürlich interessieren die Soko-Beamten alle Morde, alle Verbindungen, alle Helfer und Auftraggeber. Deswegen behandeln sie ihn nicht wie einen Mörder, sondern wie einen Gast.
Seine Anwältin besucht ihn bis zu seinem Tod im Juli mehr als 70 Mal. Ab und an soll sie danach mit hochrotem Gesicht den Raum verlassen haben; es wird von einer Affäre der beiden gemunkelt. Sie selbst, heißt es, sei angetan von Pinzners Sprüchen, vom selbstbewussten Auftreten des Machos. So aufopferungsvoll, wie sie sich einst nach dem Tod ihres an Krebs erkrankten Vaters um die Angelegenheiten der Familie gekümmert hat, sorgt sie nun für ihren prominentesten Mandanten, so wird es ein Gutachter später einschätzen. Sie habe ihre eigene Familiengeschichte und Pinzners Fall nicht mehr wirklich auseinanderhalten können.
Ich sage oft, I. soll Dich von mir lieben, ganz toll. Ich kann ja nicht kommen, aber sie.
Trotz dieser Zeilen an ihren Mann ist Jutta Pinzner eifersüchtig auf die Anwältin; auch weil diese ihren Mucki ungestört besuchen kann. Das mit der Soko vereinbarte Treffen zwischen Jutta und Werner Pinzner hat zwar stattgefunden, allerdings nicht in der gewünschten Form. Pinzner ist verärgert, verweigert über Wochen die Aussage. Er spielt wohl auch auf Zeit.
I. war um 9 da. Hat mir drei Gramm H mitgebracht. Am Montag soll die Gamaskry + 2 gr. Weiße Dame kommen.
Der Eintrag in Pinzners Tagebuch stammt vom 11. Juli, eine Gamaskry ist unter Kiezganoven ein Revolver. Seine Anwältin besorgt kurz darauf tatsächlich die Waffe. Dann trifft sie sich mit Pinzners Frau. Die – so wird es später ein Gericht nennen – „Rockprobe“ steht an. Außerdem sprechen die beiden über das, was passieren soll. Pinzner notiert:

Sie hat zu Hause auch mit Jutta geübt, wie sie die Waffe am besten (…) verstecken kann, dann geht Jutta auf die Toilette + steckt die Waffe in ihre Handtasche. Dazu sollte Jutta sich die gleiche Tasche die Isolde hat, auch kaufen. Weil schön groß!

Fühlt sich Jutta Pinzner unsicher, holt sie sich Rat bei der Anwältin ein. Als sie darüber nachdenkt, sich mithilfe eines Föhns in der Badewanne umzubringen, redet es ihr die Anwältin aus. Isolde Oechsle-Misfeld scheint am Gleichen interessiert zu sein wie ihr Mandant: einem letzten großen Auftritt für ihn.
Präsidium!
Einzig dieses Wort notiert Werner Pinzner für den 29. Juli. Morgens um 9 Uhr wird er an diesem heißen Sommertag in der Untersuchungshaftanstalt am Holstenglacis abgeholt. Er hat ein braunes Kuvert dabei und dem Staatsanwalt der Soko 855 versprochen, umfänglich auszusagen. Ein Konvoi bringt ihn zur Vernehmung, die Beamten fürchten einen Anschlag, angeblich sind 300 000 Mark auf Pinzners Kopf ausgesetzt.
Polizeipräsidium, vierter Stock, Zimmer 418, acht Stühle, einer am Fenster bleibt leer. Der Ermittler, der bei den früheren Vernehmungen immer dort, genau
neben Werner Pinzner, saß, hat frei und ist in Göteborg zum Segeln. Neben Pinzner, dem die Handschellen abgenommen wurden, sitzt seine Frau, neben ihr, an der Ecke des Tisches, seine Anwältin. Schräg gegenüber von Pinzner nehmen Staatsanwalt Bistry und zwei Polizeibeamte Platz. Am anderen Ende des Raumes tippt die Protokollantin auf einer Schreibmaschine.
Pinzners Anwältin Oechsle-Misfeld unterhält sich mit dem Staatsanwalt über ihren Hund und über Richterstellen in Schleswig-Holstein. Jutta Pinzner möchte vor der Vernehmung auf die Toilette. Als sie wieder in den Raum zurückkommt, hängt sie ihre Tasche über die Lehne ihres Stuhles, direkt neben ihrem Mann.
Pinzner steht auf, geht an der Handtasche vorbei zum Fenster und sagt: „Kann man hier nicht wenigstens mal frische Luft reinlassen?“ Später, nachdem er wieder Platz genommen hat, fragt er die Polizisten nach Kaffee.
„Nun, Herr Pinzner, schießen Sie mal los“, sagt Staatsanwalt Bistry.
Werner Pinzner steht wieder auf und hält plötzlich eine Waffe in der Hand:
„Meine Herren“, sagt er, „dies ist eine Geiselnahme. Wir haben drei Stunden Zeit.“ Und in Richtung der Polizisten: „Ihr geht raus.“
Die beiden Beamten erheben sich, doch nun raunt Pinzner sie an, sich wieder zu setzen. In diesem Moment steht Bistry auf, Pinzner schießt sofort. Das Projektil durchschlägt den Kopf des Staatsanwalts.
Die Polizisten stürmen aus dem Raum, Pinzner schießt, trifft sie aber nicht.
Dann lässt Pinzner seine Anwältin und seine Frau mit einem Schreibtisch die Tür verbarrikadieren. Er ruft vom Apparat des Staatsanwalts seine Tochter Birgit an und sagt zu ihr: „Birgit, ich liebe dich.“ Der Protokollantin befiehlt er, unter dem Tisch hervorzukommen.

„Du schaust zu“, sagt er. Er flüstert dann seiner Frau etwas ins Ohr, sie kniet sich vor ihn, hebt den Kopf, macht den Mund auf und blickt ihrem Mann in die Augen. Ihre letzte Demutsgeste. Pinzner schiebt den Lauf des Revolvers in ihren Mund und drückt ab. Er setzt sich neben den leblosen Körper seiner Frau und richtet sich selbst, ebenfalls durch einen Schuss in den Mund.
Ich werde nochmal hinlangen. Die Schweine haben mich ja so geflachst. Viele Grüße Mucki, steht auf einem Blatt im braunen Kuvert.

Ende Februar 2019, knapp 33 Jahre später, am Rand von Hamburg, wo es bereits mehr nach Land als nach Stadt aussieht. Im Garten eines Hauses sitzt Rolf Bauer, einer der Ermittler der damaligen Soko 855. Heute spricht er mit der routinierten Sachlichkeit eines pensionierten Polizisten über diesen einen Tag. Er verlor 1986 einen Freund, Wolfgang Bistry. Er habe mit ihm und der Soko in jenen Wochen mehr Zeit als mit seiner Frau verbracht, sagt er. Der Tag sei für ihn deswegen wie ein Tritt zwischen die Beine gewesen.
Bauer spricht in leichtem Hamburgisch über den Fall, über Pinzner und dessen Frau, über den Kiez. Neulich habe er zufällig Hockauf – Pinzners Komplizen – getroffen und sich ein Stündchen mit ihm unterhalten. Hockauf wurde 1989 genauso wie Peter Nusser zu lebenslanger Haft wegen Mordes verurteilt, ist aber längst wieder frei. Rolf Bauer scheint keinen Groll gegen die beiden zu hegen.
Rolf Bauer sagt, er habe mal die Regalmeter nachgezählt, die die Ordner im Fall Pinzner einnahmen. 55. Irgendwo in ihnen dürfte notiert sein, was den Ermittlern damals zugetragen wurde: dass Pinzner den Staatsanwalt und sich selbst tötete, weil die Kiezbosse ihm dafür etwas versprochen hatten. 1800 Mark Monatsrente für Pinzners Tochter Birgit. Bekommen habe die Tochter das Geld nie, sagt Bauer. Birgit Pinzner starb im Mai 2003 drogenabhängig und verarmt, eine Prostituierte, 32 Jahre alt.
Bauer erzählt mit ruhiger Stimme, dass Pinzner wahrscheinlich noch mehr Taten begangen habe, etwa einen Mord in St. Gallen. Besonders nachdenklich wird er, als er über den Tag der Tat spricht. Er war nämlich bei allen Vernehmungen Pinzners dabei, nur bei der letzten nicht. Er war der Ermittler, dessen Stuhl frei blieb, weil er in Göteborg segeln war. Dieser Urlaub war vermutlich seine Rettung. Aber manchmal denkt Bauer auch: Vielleicht hätte ich die Tat verhindern können? Aber das Leben sei ja keine Polizeiserie, sagt er dann.
Sehr wütend klingt er allerdings, als er auf die Anwältin angesprochen wird.
„Sie war noch perfider als Pinzner.“ Für ihn sei sie eine Mörderin. „Sie hat nicht nur im Vorfeld von der Tat gewusst, sie hat sie gefördert. Nur durch sie ist Wolfgang Bistry gestorben.“
Über ihr Motiv sagt er, sie sei geldgierig gewesen. Außerdem habe Pinzners Suizid dafür gesorgt, dass er sie später nicht mehr „hopsgehen lassen“ konnte, etwa indem er ausgesagt hätte, dass sie ihm Drogen in den Knast geschmuggelt hat. Vielleicht hatten auch die Kiezbosse sie in der Hand, denn umso tiefer sie in die Sache reingerutscht sei, desto erpressbarer sei sie geworden.

Isolde Oechsle-Misfeld wurde 1991 in zweiter Instanz zu sechseinhalb Jahren Haft wegen Beihilfe zum Mord verurteilt. Bereits einen Tag nach den Schüssen im Polizeipräsidium hatte sie Interviews vor ihrer pinkfarbenen Alsterdorfer Villa gegeben und betroffen gesagt, dass sie nichts von Pinzners Plan geahnt habe. In ihrem Haus dürfte allerdings eine Vereinbarung gelegen haben, die sie mit den Pinzners vor deren Tod geschlossen hatte. Zumindest wurde diese Vereinbarung später publik: die Übertragung der Nutzungsrechte an Pinzners Lebensgeschichte. Filme, Bücher über den Fall, alles hätte der An
wältin Geld gebracht. Außerdem hätte der Tod der Pinzners, wäre sie selbst unentdeckt geblieben, auch für ein gut gefülltes Auftragsbuch gesorgt, sie wäre die Anwältin der ganz Großen des Kiez geworden. Doch die Briefe und Tagebucheinträge der Pinzners überführten sie wenige Wochen nach der Tat. Darin stand, wie sie den Plan mitentwickelt hatte, den Pinzners Frau Jutta später erfolgreich umsetzte, als sie den Revolver unter ihrem Rock im Slip versteckt ins Präsidium schmuggelte.
In einem ersten Prozess schwieg Oechsle-Misfeld monatelang. Beim zweiten sagte sie aus, dass sie die Waffe zwar beschafft habe, aber im Glauben, es gehe Pinzner einzig darum, sich selbst und seine Frau zu töten. Bis zuletzt bestritt sie, gewusst zu haben, dass ihr Mandant auch Staatsanwalt Bistry erschießen wollte.
Von den sechseinhalb Jahren Haft hat sie knapp zwei Drittel in Kliniken und als Freigängerin verbracht, der Rest wurde zur Bewährung ausgesetzt. Die Anwaltszulassung wurde ihr für fünf Jahre entzogen; bereits aus der Haft arbeitete sie wieder als Justiziarin.
Rolf Bauer sagt heute: „Ihre Strafe ist ein Witz – und dass sie wieder als Juristin arbeiten darf, ist unverständlich.“
Rolf Bauer ist wie die Anwältin christlich erzogen worden. „Ich war auch mal gläubig, neuapostolisch wie sie“, sagt er. Allerdings lasse sich, was er in 30 Jahren Mordkommission erlebt habe, mit dem Glauben an Gott nicht vereinbaren. „Gott kann es nicht geben.“
Kann er der Anwältin dennoch verzeihen?
„Nie!“, antwortet er, und das sei die Meinung aller Mitglieder der Soko 855. „Ich wünsche ihr nichts Gutes.“ Der Sohn Wolfgang Bistrys sei einen Tag nach dessen Beerdigung eingeschult worden. Seine Frau habe nie mehr geheiratet.
Bauer erzählt, dass Bistry und Oechsle-Misfeld zusammen studiert hatten und der zweite Staatsanwalt der Soko 855 ihr Nachbar war. Deswegen habe Oechsle-Misfeld einen Vertrauensvorschuss bei Bistry und seinem Kollegen gehabt.
Elf Tage vor dem Mord gab es Hinweise, dass Pinzner sich und seine Frau umbringen wollte. Der Nachbar der Anwältin, der zweite Staatsanwalt, telefonierte mit ihr. Sie gab ihm zur Antwort: „Das ist der größte Schwachsinn aller Zeiten.
Juristen sind sich einig, dass selbst Mörder ein Recht auf Resozialisierung, ein neues Leben haben. Priester vergeben ihnen ihre Schuld, allerdings nur, wenn sie aufrichtige Reue empfinden. Rolf Bauer sagt: „Es ist nicht gerecht, dass die Anwältin heute ein normales Leben führt. Sie hat Scheiße gebaut, dazu muss sie stehen.“ Aus der Sicht Bauers ist die Anwältin durch ihr Schweigen noch immer schuldig.

Anruf in einem Ort in Süddeutschland, ein Haus an einer Kreuzung, dort wohnt sie nun, 72 Jahre alt. Ihr neuer Name ist in Zeiten des Internets einfach herauszufinden und auch, dass sie wieder fest in der Neuapostolischen Kirche integriert ist.
Eine fröhliche klingende Frauenstimme meldet sich. Gefragt, ob sie die Frau sei, die als Isolde Oechsle getauft wurde, antwortet eine Stimme nahe am Gefrierpunkt:
„Die Frage stellt sich ja nun nicht mehr.“
„Ich kann Sie nur warnen“, sagt sie dann scharf und dass es den Anspruch auf Schutz des Persönlichkeitsrechts gebe. Die Juristin droht mit der Justiz.
Wie konnte es geschehen, dass ihr Mandant einen solchen Sog auf sie entwickelte? Fühlte sie sich je schuldig? Wie hilft oder half ihr der Glaube? Sollte ihr heute vergeben sein? Fragen wie diese stellt man ihr während des dreiminütigen Gesprächs.
„Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse“, antwortet sie. „Tschühüüs“, sagt sie schnippisch, leicht hanseatischer Tonfall.
Die Neuapostolische Kirche hat sich in den vergangenen Jahren geöffnet. Dennoch ist sie noch immer eine sehr enge Gemeinschaft, fromm, ihre Sprache klingt oft naiv. Es gibt eine Bibelstelle, die für sie zentral ist, dort spricht Jesus mit Vergebung der Sünde: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, dann könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ Sünder sollen rein wie Kinder werden. Gott nennen die Mitglieder der Glaubensgemeinschaft den „lieben Gott“. Sich selbst nennen sie „die Kinder Gottes“.