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Ob Maracana oder Unteriglbach – hauptsache Fußball

Josef Weiß, 1975 Europapokalsieger mit dem FC Bayern, spielt immer noch – in der A-Klasse

Wenn man die Geschichte dieses früheren Weltpokalsiegers erzählt, der 1975 vor 117 000 Zuschauern im brasilianischen Belo Horizonte die Copa Intercontinental holte und im gleichen Jahr für den FC Bayern München vor 170 000 Menschen im ehrwürdigen Maracana-Stadion auflief, darf heute der niederbayerische Ort Untergiglbach und das Torverhältnis des A-Klassisten SpVgg Pleinting II (2:31) nicht fehlen.

Dort, in Pleinting auf dem Fußballplatz – der gleich neben einer Tankstelle liegt, die wohl ähnlich alt ist wie Josef, genannt Sepp Weiß – steht eben dieser als Libero am Sechzehner. Mit 59 Jahren. Er ruft gerade seinen erheblich jüngeren Mitspielern abwechselnd „geht’s zu!“, „kimt’s“ oder „raus!“ zu. In den ganzen 90 Minuten („Sepp spielt meistens durch“, heißt es) ruckelt seine Frisur, die man noch immer als eine Siebziger-Jahre-Matte bezeichnen kann, von links nach rechts und zurück. Dazu mahlt sein Kiefer unentwegt, Weiß brabbelt, ist unzufrieden, schimpft. Er, der ehemalige Manndecker in Diensten des FC Bayern (37 Bundesligaspiele) ist der Tonangeber in einer nie tonangebenden Mannschaft, die in der untersten Liga Bayerns abgeschlagener Letzter ist.

Heute treffen sie auf den Tabellenführer der A-Klasse, den FC Unteriglbach. An den Spieltagen zuvor hieß es gegen schlechtere Gegner mal 0:4, mal 0:6, mal 0:9 – immer auf dem Platz: Sepp Weiß. Knapp 40 Jahre zuvor, am Abend des 28. Mai 1975 im Finale des Europapokal der Landesmeister, sagte Dettmar Cramer, der damalige Trainer des FC Bayern, am Spielfeldrand im Pariser Prinzenpark zu ihm, nachdem er in der vierten Minute Björn Andersson ersetzen musste: „Junge, heute kommt deine Stunde. Bremner ist dein Mann.“ Und Billy Bremner, der für seine ruppige Art bekannte Kapitän von Leeds United, war Sepp Weiß’ Mann. Die Mitspieler hießen Franz Beckenbauer, Uli Hoeneß, Gerd Müller, Katsche Schwarzenbeck oder Sepp Maier – Weiß half mit, dieses Finale 2:0 zu gewinnen. Die SZ bescheinigte dem damals 23-Jährigen eine Leistung „fast ohne Tadel“. Der FC Bayern holte in dieser Zeit dreimal in Serie den Europapokal der Landesmeister. Weiß ist zweimaliger Weltpokalsieger, eine deutsche Meisterschaft aber blieb ihm verwehrt – die Mannschaft spielte bereits über ihrem Zenit, in der Liga fehlten Erfolge. Cramer wollte den nötigen Umbruch einleiten, sah sich als Förderer der Jugend, und auch Weiß sagt: „Er hielt viel von mir und war mein Mentor.“ Doch da die nationalen Titel ausblieben, trennte sich der Verein 1977 von Cramer. Guyla Lóránt übernahm, krempelte die Mannschaft um. Auch Weiß verließ den Klub und heuerte erst beim Würzburger FV und später bei der SpVgg Bayreuth in der zweiten Liga an, die seine letzte Station als Lizenzfußballer war. Über Umwege erreichte er vor 15 Jahren die SpVgg Pleinting.

Sepp Weiß fährt seit 28 Jahren auf dem Weg zur Arbeit – der gelernte Bankkaufmann vermarktet Spielankündigungsplakate regionaler Fußballmannschaften – am Pleintinger Fußballplatz vorbei. Nach dem Tod seiner Eltern verließ er zum zweiten Mal nach 1967 – als sein Vater ihn über Kontakte ein Training beim FC Bayern organisierte – seinen Heimatklub, den TSV Nandlstadt. Er wollte nicht mehr jedes Wochenende die über 130 Kilometer von seinem Wohnort Vilshofen nach Oberbayern fahren. Er wechselte auf den Platz neben der Tankstelle, nach Pleinting.

Mittlerweile spielt er dort in der zweiten Mannschaft. In der Partie gegen Unteriglbach steht es zur Halbzeit 0:3. Es könnte 0:11 stehen. In der Kabine fällt kein Wort. Anspannung. Nach fünf Minuten bricht es plötzlich aus einem Spieler heraus: „Die Gegentore waren unnötig. Da brauchen wir gar nicht mehr raus.“ Dann wird gezetert, fast gestritten. Am Ende beruhigt sich die Stimmung. Sepp Weiß sagt kaum etwas. Auf dem Platz schreit er wieder, legt sich mit Mitspielern oder dem Schiedsrichter an, hadert, brabbelt. Der abseits des Platzes sehr nette Sepp Weiß wirkt auf dem Spielfeld unzufrieden. Dauernd. Warum spielt er noch? „Weil ich mich fit halten will und die Lust nie verloren habe“, sagt er. Weiß fehlt ein Begriff in seinem Wortschatz. „Karriereende?“, fragt er und lacht. Er spiele Fußball seit er denken könne. Nach einigen Momenten fällt Weiß ein weiterer Grund ein: „Ich bin hier unter jungen Leuten.“

Dieser Satz entbehrt nicht einer gewissen Tragik. Es macht den Anschein, als wollen nicht alle dieser Spieler seine Tipps hören. „Es gibt Jüngere im Team, die können keine 45 Meter laufen. Sepps gut gemeinte Ratschläge gelangen denen in den falschen Hals“, sagt Alois Rauchegger, der im Mittelfeld spielt und Abteilungsleiter des Klubs ist. Weiß, der die zehn auf dem Rücken trägt, ist der beste Spieler des Teams. Er ist zwar mittlerweile langsam, sein Bewegungsradius verläuft an der Strafraumlinie, aber da er in einem noch langsameren Team spielt, ist’s, nun ja, gerade egal. Rauchegger sagt: „Wissen’s, der Unterschied ist groß. Wir müssen damit leben, und er lebt auch damit.“ Manchmal lebt eben die eine, manchmal die andere Seite besser damit.

0:5, es läuft der Angriff zum 0:6. Weiß grätscht zum richtigen Zeitpunkt, leitet den Spielaufbau ein, spielt – wie immer – den richtigen Pass. Ballverlust. Zweimal schaltet er sich selbst in den Angriff ein, zweimal bekommt Pleinting ein Gegentor. 0:7. Zu langsam, allesamt. Die gegnerische Mannschaft ist im Schnitt Mitte 20. Jetzt schiebt Weiß einen Spieler dieses Alters seines eigenen Teams zur Seite; Standards sind seit jeher Chefsache. Er ist ehrgeizig, kämpft. Es ist von vornherein ein verlorener Kampf.

Sein Freistoß fliegt mit Effet über die Mittellinie, kommt millimetergenau an. Dem Mitspieler springt der Ball vom Fuß, die Kugel landet beim Gegner. Acht Sekunden später fällt das 0:8. Der FC Unteriglbach ist Weltpokalsiegerbesieger. Marco Maurer