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Ich Arbeiterkind

Unser Autor kommt aus einer Arbeiterfamlie. Abitur und Studium waren auf seinem Weg nicht vorgesehen. So sieht das zumindest unser Bildungssystem

Sie nennen mich Arbeiterkind: die Bundesfamilienministerin Kristina Schröder von der CDU, der ZEIT-Herausgeber Helmut Schmidt, die SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles, der Grünen-Chef Cem Özdemir. In einem seltenen, Parteien und Weltanschauungen übergreifenden Konsens finden sie alle denselben Begriff, wenn sie von Leuten wie mir sprechen.

Ich bin jetzt 32 Jahre alt, und das Wort Arbeiterkind begleitet mich – Sohn eines Kaminkehrers und einer Friseurin – fast mein ganzes Leben lang.

Mit Herrn Proksch fing es an. Heute, 21 Jahre später, stehe ich vor seiner Haustür. Gleich werde ich ihn wiedersehen. Ich drücke die Klingel, höre Schritte, die Tür öffnet sich.

Ich muss an früher denken.

Zum ersten Mal begegnete mir Herr Proksch im Sommer 1991, auf der Hauptschule in Lauterbach, einem Dorf im bayerischen Teil von Schwaben. Er war ein stämmiger Mann mit breitem Gesicht, der gerne braune Pullover trug. Mein Lehrer, Klasse 6b.

An einem Montag im Frühjahr 1992 empfing er dann meine Mama. Es war Elternsprechtag. Im Klassenzimmer saß Herr Proksch leicht erhöht hinter seinem Pult, auf dem Bücher und Ordner lagen. Meine Mama hatte auf einem der Kinderstühle Platz genommen. Es ging darum, auf welche weiterführende Schule ich gehen sollte: Real- oder Hauptschule. Die wenigen Gymnasiasten, die es in unserem Dorf gab, hatten uns nach der vierten Klasse verlassen.

»Marco sollte auf der Hauptschule bleiben, Frau Maurer, die Realschule ist nichts für ihn.«

Das war Herrn Prokschs erster Satz. Meine Mama hat es mir später erzählt. Das ganze Gespräch.

»Meinen Sie wirklich, Herr Proksch?«

»Er hat im Zeugnis drei Dreien in den Kernfächern, das sind zwei Zweien zu wenig. Er wird das nicht schaffen.«

»Wir haben gerade eine schwierige Zeit daheim.«

Meine Mama sprach von Umzügen, Schulwechseln und der Trennung von ihrem Lebensgefährten.

»In den Jahren zuvor war er doch besser«, sagte sie. »Er hatte immer nur Zweien im Zeugnis, er könnte den Aufnahmetest für die Realschule machen.«

»Das hat doch keinen Wert bei ihm, Frau Maurer.«

Als Herr Proksch das sagte und den Kopf schüttelte, stand meine Mama auf, nahm ihren roten Mantel und verließ den Klassenraum, in dem das Wort »Arbeiterkind« in der Luft hängen blieb.

»Vielen Dank, Herr Proksch!«

Heute, mehr als 20 Jahre später, sagt meine Mama, während sie an einer Zigarette zieht, sie habe sich damals machtlos gefühlt. Sie, die Volksschülerin und Friseurin, wagte es nicht, ihm, dem Akademiker, zu widersprechen.

Diese Erzählung deckt sich mit etlichen Studien zum deutschen Bildungssystem. Lehrerempfehlungen werden von Angehörigen einer bildungsfernen Schicht – dazu zählt meine Mama – meist hingenommen. Akademiker dagegen kämpfen um die Zukunft ihrer Kinder, sie schieben sie mit aller Macht in Richtung Abitur. Geld für Nachhilfe haben sie, und wenn nichts mehr hilft, drohen sie mitunter mit dem Anwalt.

Bei meiner Mama dagegen genügten ein paar Worte des Lehrers, um den Zweifel an meiner Leistungsfähigkeit zu säen. Einen Zweifel, der mich jahrelang begleiten sollte.

Ich war damals elf. Nachdem meine Mutter mir von Herrn Prokschs Zukunftsprognose erzählt hatte, fragte ich mich: Was soll jetzt aus mir werden? Ein Ziegelklopfer? Wie Ali?

In einem Ort nicht weit von meinem Zuhause stand eine kleine Ziegelfabrik. Dort klopfte ein Mann mit einem Gummihammer auf frisch gebrannte Dachziegel, die ihm ein Fließband vorsetzte. Acht Stunden am Tag, etwa ein Ziegel pro Sekunde. Der Mann prüfte den Härtegrad. Er hatte dunkle Haut und einen Schnurrbart. Wir nannten ihn Ali.

Bis zu jenem Elterngespräch hatte ich gut gelebt mit dem deutschen Bildungssystem: Ich hatte nämlich nicht viel von ihm bemerkt. Ich hatte ein bisschen Hausaufgaben gemacht, keine Sorgen gekannt, war Kind geblieben. Jetzt aber sah ich es auf einmal vor mir, dieses System. Groß und mächtig. Und ich war darin gefangen, ganz unten.

Ich erzähle das, weil ich der Meinung bin, dass jeder Mensch die Chance haben sollte, etwas aus seinem Leben zu machen. Im deutschen Bildungssystem aber gibt es etwas, das dem im Weg steht: die Herkunft. Die Macht der Vergangenheit.

Von 100 Akademikerkindern schaffen 71 den Sprung auf die Universität, von 100 Nichtakademikerkindern nur 24. Das ist die deutsche Wirklichkeit im 21. Jahrhundert. Diese Zahlen sind kein Resultat unterschiedlicher Intelligenz. Dutzende Studien belegen, dass die Kinder von Fließbandarbeitern, Verkäuferinnen und Handwerkern, von Arbeitslosen, Hartz-IV-Empfängern und Migranten auch bei exakt gleicher Leistung schlechter benotet werden. Wo Akademikerkinder locker durchkommen, bleiben die anderen hängen. Sie stolpern in Prüfungssälen und Klassenräumen, Lehrerzimmern und Elternhäusern über unsichtbare Hindernisse.

Ich glaube einige dieser Hindernisse inzwischen zu kennen. Ich habe sie selbst überstiegen auf meinem langen Weg durch das deutsche Bildungssystem. Schließlich habe ich so ziemlich alle Arten von Schulen besucht, die es in Deutschland gibt: Ich war Grundschüler, Hauptschüler, Realschüler, Berufsschüler, Abiturient. Ich war auf vier verschiedenen Hochschulen und einer Journalistenschule. Mehr Schüler geht kaum. Da kann die Bildungsministerin Annette Schavan mit ihren je zwei Schulen und Hochschulen gegen mich und die anderen, die an diesem Abend im Café Telos sitzen, einpacken.

Das Telos ist eine Münchner Studentenkneipe. Hier warte ich an einem Donnerstagabend alleine an einem Tisch und schaue mich fragend um, bis mich ein junger Mann anspricht: »Bist du ein Arbeiterkind? Unser Stammtisch ist dahinten.«

In fast jeder größeren deutschen Stadt gibt es sie heute: Ortsgruppen der Initiative »Arbeiterkind«, die 2008 von Katja Urbatsch gegründet wurde, einer Doktorandin in Gießen. Sie war die erste Akademikerin ihrer Familie und hat das Buch Ausgebremst – Warum das Recht auf Bildung nicht für alle gilt geschrieben.

Wenig später sitze ich mit Klaus am Tisch, 34 Jahre alt, Sohn eines Zimmermanns und bald Doktor der Verwaltungswissenschaften, angestellt in der Strategieabteilung eines Dax-Konzerns. Neben ihm: Volker, 50, Sohn eines Maurers und Politologe, heute in der Personalabteilung einer europäischen Behörde. Auch Stefan gehört zur Runde: 29, Sohn eines Kraftfahrers und einer Putzfrau, gelernter Krankenpfleger, ehemaliger Hartz-IV-Empfänger, jetzt Germanistik-Student.

Ein Stammtisch von 15 Männern und Frauen, alle Bildungsgewinner, denen der Aufstieg ihrer Herkunft wegen fast verwehrt worden wäre. Ein Treffen von »Beinahe-Opfern« des Schulsystems.

»Am Anfang fehlte der Background, später während des Studiums kam die Unsicherheit hinzu, ob man überhaupt dazugehört«, sagt Volker, der Personaler. »Weder meine Familie noch ›das System‹ konnten mir aufzeigen, wie ich an mein Abi komme«, sagt Stefan, der ehemalige Hartz-IV-Empfänger. Ich sage, ich bin hier wegen Herrn Proksch und weil es nicht sein kann, dass Bildungsaufstieg vom Milieu der Eltern abhängt. Uns alle eint eine Erfahrung, die wir auf unserem Weg nach oben gemacht haben: »Das Geld war knapp« – der Satz fällt in Variationen immer wieder.

Im Café Telos kommen die »Arbeiterkinder« zusammen, um zu überlegen, wie sie helfen können, Kindern von Nichtakademikern den Weg zu Abitur und Hochschulabschluss zu erleichtern. Sie sind so etwas wie Bildungs-Streetworker, halten Vorträge an Schulen, vermitteln Praktikumsplätze in Unternehmen, geben Ratschläge, wie sich ein Studium finanzieren lässt.

Auch Adam Egerer ist einer von ihnen. 32 Jahre ist er alt, Sohn eines tschechischen Einwandererpaares. Über das Abendgymnasium schaffte er es zum Abitur, inzwischen steht er kurz vor dem ersten juristischen Staatsexamen.

Ein paar Tage nach dem Treffen im Café Telos bin ich mit ihm im Münchner Hochhausviertel Neuperlach verabredet, das vor 15 Jahren bundesweit bekannt wurde als Heimat von Mehmet, einem Jungen, der mit 13 Jahren 60 Straftaten angesammelt hatte und dann in die Türkei abgeschoben wurde. Adam ist hier aufgewachsen.

Jetzt steht er vor McDonald’s, wie vor zehn, fünfzehn Jahren, als er sich hier mit seinen Freunden traf. Damals konnte man an diesem tristen Ort auch Ahmet und Yussuf begegnen: Hauptschülern, die mit Spraydosen die Zahl 83 auf Hauswände sprühten, zwei Ziffern der alten Postleitzahl von Neuperlach. Später fingen sie an, Kokain zu verticken, das man hier »Jay« nennt. Heute verbringen Ahmet und Yussuf ihre Zeit noch immer vor McDonald’s.

Jeder junge Mensch will etwas aus seinem Leben machen. Jedes Kind hat Träume, Wünsche, Vorbilder. Wem aber mit zehn, zwölf Jahren gesagt wird, es komme für ihn nur die Hauptschule infrage, weil er für alles andere zu dumm sei, der hat nur eine Möglichkeit, seine Selbstachtung nicht zu verlieren: Er muss sich einreden, Bildung sei Unsinn, und sich andere Aufstiegsmodelle suchen. »Ich fand es damals cool, vor McDonald’s rumzuhängen«, sagt Adam Egerer. »Ich dachte, ich brauche die Schule nicht. Gymnasiasten waren für uns Spackos.«

Mir fällt mein eigenes Leben damals auf dem Dorf ein. Ehemalige Freunde wie Daniel und Michael, so nenne ich sie jetzt mal, die auf der Hauptschule blieben. Ich selbst machte gegen den Willen meiner Mama und die Empfehlung von Herrn Proksch die Aufnahmeprüfung für die Realschule und bestand.

Für Daniel und Michael dagegen wurden auf der Hauptschule aus Realschülern und Gymnasiasten bald »die Asis«. Noch so ein Begriff aus der Jugendsprache der Neunziger, mit dem man sich über andere erhob. Kurioserweise benutzten die Gymnasiasten denselben Ausdruck für die Hauptschüler.

Später trugen Daniel und Michael dann Aufnäher der damals bei Rechtsradikalen beliebten Band Böhse Onkelz auf ihren Jeansjacken und flochten sich weiße Schuhbänder in ihre Stiefel. Sie waren nicht ernsthaft ausländerfeindlich, eher wollten sie die Verachtung all derer da oben zeigen. Heute sind sie Fabrikarbeiter, lesen in der Mittagspause Bild und gehen sonntags Karpfen angeln.

Gut möglich, dass Ahmet und Yussuf, Daniel und Michael selbst dann nicht bis zum Abitur gekommen wären, wenn man sie gefördert hätte. Ich behaupte nicht, dass jeder die gleichen Fähigkeiten hat. Das Problem in Deutschland ist nur, dass es zu viele Menschen gibt, die gar keine Chance kriegen, ihr Können zu zeigen. Wollen sie es doch nach oben schaffen, müssen sie sich mühsam hochkämpfen. So wie Adam Egerer.

Als wir von McDonald’s hinübergehen zu seinem ehemaligen Zuhause, einem heruntergekommenen Hochhaus neben einer Polizeistation, die wegen der Gewalt- und Drogendelikte in Neuperlach errichtet wurde, erzählt er, wie es damals mit ihm weiterging.

Adam fing nach der Hauptschule bei einem IT-Unternehmen an, er verkaufte Drucker. Abends nach der Arbeit lief er auf den Wohnblock zu, mit Hunderten übereinandergestapelten Wohnungen. »Bienenwaben« nannte er sie. Jeden Morgen verließ er seine Wabe wieder, um Drucker zu verkaufen. Es hätte ewig so weitergehen können.

Es waren viele Kleinigkeiten, die sein Leben schrittweise änderten. Das Gefühl, dass die Menschen in anderen Stadtteilen glücklicher dreinschauten. Die Lieder des afroamerikanischen Rappers Tupac Shakur, der aus ärmlichen Verhältnissen stammte und die Bedeutung einer guten Bildung betonte. Die Erkenntnis, dass man wohl kaum auf einen Grabstein schreiben würde: »Hier ruht Adam Egerer, und die Drucker, die er verkaufte, waren hervorragend.«

Adam brach aus. Anstatt weiter jeden Abend RTL2 zu gucken, ging er nach der Arbeit aufs Abendgymnasium. Es folgten Abitur und Studium. Bald wird er hoffentlich das Staatsexamen bestehen und als Anwalt arbeiten. Das ist sein Ziel.

Im Gegensatz zu Adam hatte ich es trotz Herrn Prokschs Prognose immerhin auf die Realschule geschafft. Ich war jetzt Teil der ländlichen Mittelschicht, aber auch mein restliches Leben schien so vorhersehbar wie anspruchslos: die Schule abschließen, eine Ausbildung machen, im Idealfall als Bankkaufmann, ein Auto kaufen, jedes Wochenende die Felgen polieren und am Abend zu viel Bier trinken.

Es mag an einer angeborenen Trotzigkeit liegen, dass ich anfing, von etwas anderem zu träumen. Noch mehr Spaß, als Fußball zu spielen, machte es mir damals, mein eigenes Spiel zu kommentieren. Waren einst Diego Maradona und Jürgen Klinsmann meine Vorbilder gewesen, eiferte ich jetzt, nun ja, Heribert Faßbender nach. Ich wollte Sportjournalist werden.

Dann, gegen Ende der Realschule, jenes Elterngespräch bei Herrn Proksch lag lange zurück, sollte eine Begegnung mit einem weiteren Mann mein Leben verändern. Ein netter Herr im grauen Anzug, dessen Namen ich vergessen habe. Ich traf ihn nur ein oder zwei Mal in der neunten Klasse. Er kam vom Arbeitsamt, wie die heutige Bundesagentur für Arbeit damals hieß. Er sollte uns bei der Berufswahl unterstützen.

Also erzählte ich ihm von meinem Wunsch, Journalist zu werden. Fast traurig sah er mich an und sagte: »Herr Maurer, fangen Sie nicht an zu träumen.«

Er fragte mich, was meine Eltern von Beruf seien. Dann sagte er: »Herr Maurer, wie wäre es denn mit etwas Vernünftigem? Haben Sie niemanden in der Familie, der etwas für Sie hat?«

Doch, hatte ich. Mein Schwager arbeitet noch heute in einer großen Molkerei. Entmutigt von Herrn Proksch und dem grauen Herrn vom Arbeitsamt, fand ich mich damit ab, dass das mit dem Journalismus nichts werden würde.

Also wurde ich Molkereifachmann.

Zwar fand ich am ersten Tag meiner Ausbildung meine erste große Liebe, aber glücklich wurde ich weder mit ihr noch mit meinem Beruf. Als ich mich nach der Lehre entschloss, das Abitur nachzuholen, stieß ich auf Unverständnis. Im Sportverein, unter Elektrikern, Friseuren und Gärtnern, war ich ab sofort »der Student.« Das hieß so viel wie: der Exot, der Spinner, der nichts arbeitet, vielleicht nie arbeiten wird.

Schlimmer aber war, dass meine Mama mich jahrelang fragte, warum ich mein gut bezahltes Facharbeiter-Leben, meinen sicheren Arbeitsplatz, mein geregeltes Einkommen gegen eine unsichere Zukunft eintauschte. Heute sehe ich in ihren Fragen Schicksalsergebenheit. In Familien wie meiner ist nicht die Verwirklichung eines Berufstraums das höchste Gut, sondern eine sichere Existenz, ein Haus, ein Auto, ein Konto bei der Sparkasse.

Ein paar Tage nach meinem Treffen mit Adam Egerer in Neuperlach sitze ich im Wohnzimmer des ersten Menschen, der mir auf dem Weg in Richtung Bildungsaufstieg wirklich geholfen hat. Es ist Frau Galli, meine Lehrerin im Deutsch-Leistungskurs auf dem Bayernkolleg in Augsburg. Dort habe ich mein Abitur nachgeholt. Am Abend der Abschlussfeier sagte sie zu mir, nachdem ich ihr von meinem alten Berufswunsch erzählt hatte: »Herr Maurer, Sie würden einen ausgezeichneten Journalisten abgeben.« Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass mein Traum vielleicht Wirklichkeit werden könnte.

Frau Galli hat zwei Kuchen gebacken und serviert Tee aus einer britischen Porzellankanne. Zu meiner Linken steht ein Klavier, auf dem Boden liegen schwere Teppiche, im Regal: hohe Literatur und Schallplatten mit klassischer Musik. Frau Galli sitzt in einem tiefen Sessel, und ich sage: »Jede moderne Schule sollte ihren Schülern ein frei zugängliches Tageszeitungs-Abo anbieten. Das kostet der Schule kein Vermögen. Finden Sie nicht auch?« Frau Galli korrigiert mich: »Die Schule. Es kostet die Schule kein Vermögen. Akkusativ!«

Frau Galli ist mittlerweile pensioniert. Zu meiner Schulzeit, vor zehn Jahren, war sie gefürchtet. Einer meiner ehemaligen Mitschüler nennt sie heute noch einen »alten Drachen«. Mir aber hat sie Freude am Lernen vermittelt.

Frau Galli hat uns – zumeist Kinder von Handwerkern oder Einwanderern – mit Büchern wie Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob traktiert, einem Roman, der selbst für manche Literaturkritiker schwer zu durchdringen ist. Sie hat uns überfordert, aber auf eine Art, dass wir Lust bekamen, klüger zu werden. »Hätte ich mich nach dem Lehrplan gerichtet, hätte ich dafür keine Zeit gehabt«, sagt Frau Galli heute. Damals schärfte sie uns ein: »Wenn es Ihnen gefallen hat, bloß niemandem weitersagen! Sonst bekomme ich Ärger.«

Besonders engagierten Französischklassen gab sie ab und an zusätzliche Stunden, bis der Direktor sie rügte: Das sei ungerecht gegenüber anderen Klassen. Also verheimlichte sie auch die Zusatzstunden. Heute sagt sie: »Da ist doch im System was falsch: Wer mehr lernen will, wird bestraft.«

Der zweite Wegbereiter zu meinem heutigen Beruf war die Süddeutsche Zeitung, die in der Cafeteria der Schule auslag – ein Fenster in eine unbekannte Welt. Nun begriff ich, wie Politik funktioniert, was Kultur bedeutet. Deshalb meine Idee mit dem Zeitungs-Abo.

Mit 22 Jahren habe ich zum ersten Mal in einem richtigen Theater gesessen. Die Welt war danach eine andere, klarer und komplexer, heller und dunkler zugleich. Bildung macht glücklich, das habe ich damals erfahren.

Auch bei Adam ist dieses Fenster während seiner Zeit im Abendgymnasium aufgegangen. Die Lehrer, die Bücher, die Zeitungen haben Nachteile unseres Elternhauses ausgeglichen. Bildungsforscher sehen das als Kernaufgabe einer modernen Schule: eine Lernumgebung zu schaffen, die Begabungen weckt und fördert. Schulen können soziale Unterschiede nivellieren. Aber tun sie das auch?

An einem Dienstagmorgen um 7.45 Uhr stehe ich mit zwei weiteren »Arbeiterkindern« – Vanessa, Tochter eines Einzelhandelkaufmanns, und Wolfgang, Sohn eines Anstreichers – vor einer Mädchenrealschule in München. Der Elternsprecher hat sich an die Initiative aus dem Café Telos gewandt und uns um einen Vortrag gebeten. Er hat festgestellt: Viele Kinder an der Realschule übernehmen die Berufswünsche der Eltern. Denken sie doch weiter, bekommen sie keine Unterstützung von zu Hause.

Der Elternsprecher ist Psychologe und stammt selbst aus einer bildungsfernen Schicht. Er hofft, dass wir den Mädchen Mut machen können, indem wir ihnen von unseren Erfolgsgeschichten erzählen. Seht her, es geht!

Am Abend zuvor wollte die Direktorin uns wieder ausladen. Mit Mühe und Not konnten wir sie überzeugen, dass wir doch zur Schule kommen und erklären dürfen, was genau wir wollen. Jetzt stehen wir im Schulsekretariat. Vanessa, Wolfgang, ich – und die Direktorin, nennen wir sie Margarete Bäumler, eine energische Frau Anfang sechzig. Sie sagt, sie könne unseren Besuch nicht gutheißen. Wir sollten den Schülerinnen keine Flausen in den Kopf setzen. Abitur? Studium? »Wir sind eine Schule, die für die Lehre ausbildet, das war schon immer so«, sagt Frau Bäumler. Und dann sagt sie fast denselben Satz, den meine Mama vor 20 Jahren von Herrn Proksch zu hören bekam: »Alles andere ist nichts für sie.«

»Sie«, das sind ihre Schülerinnen.

Zwanzig Minuten später. Die Direktorin hat sich dann doch erweichen lassen. Wir bitten die 20 Mädchen, die vor uns sitzen, ihren Berufswunsch aufzuschreiben. Das Ergebnis: dreimal Ärztin, dreimal Journalistin, zweimal Juristin, einmal Zahnärztin, einmal Psychologin. Mindestens zehn der Schülerinnen haben also »Flausen im Kopf«. Wollen sie sich ihren Traum erfüllen, müssen sie studieren.

Vanessa berichtet von ihrem Jura-Studium, sie promoviert gerade und arbeitet für eine internationale Wirtschaftskanzlei. Wolfgang sagt, er habe nur seinen Eltern zuliebe eine Malerlehre gemacht. Jetzt studiert er Agrarwissenschaften und hat ein kleines Unternehmen gegründet. Ich erzähle von Herrn Proksch und schließe mit den Worten: »Hört nicht immer auf eure Lehrer, die irren auch manchmal.«

Nach dem Vortrag kommt eine Schülerin auf mich zu: eine der drei, die Journalistin werden wollen. Sie erzählt, ihre Eltern – eine Kassiererin und ein Facharbeiter – sagten ihr immer, im Journalismus arbeiteten einfach andere Menschen, das sei nichts für sie. Ich ermutige sie, mit ihren Eltern zu sprechen. Wenig später schreibt sie mir eine E-Mail. Sie habe sich ein Herz gefasst und ihre Eltern tatsächlich überzeugt: Sie darf nun nach der Realschule versuchen, noch das Abitur zu machen.

Das ist der Gedanke hinter der Arbeiterkind-Initiative: einander helfen, sich gegenseitig unterstützen. Wenn die Realschülerin ihren Wunsch, Journalistin zu werden, tatsächlich weiterverfolgt, werde ich ihr noch viele Tipps geben können. Manchmal sind es solche Verbindungen, solche Netzwerke, die über den Erfolg beim Berufseinstieg entscheiden.

Auch im Rotonda Business-Club in Köln wird der Netzwerk-Gedanke wichtig genommen. Der Verein sagt von sich, er sei »einer der führenden Wirtschaftsclubs im deutschsprachigen Raum, der Treffpunkt für die Gestalter der Region Köln«.

Wie im Café Telos gibt es auch hier ein Hinterzimmer. Allerdings ist es riesengroß, lichtdurchflutet, Häppchen werden aufgetragen. Hier trifft sich die Gegenbewegung zum Münchner Arbeiterkind-Stammtisch. Die Kölner FDP hat zum »Bildungsbrunch« eingeladen, das Thema lautet: »Für eine moderne Schulpolitik mit starken Gymnasien«. Es spricht Walter Scheuerl, der vor zweieinhalb Jahren in Hamburg als Vorsitzender der Initiative »Wir wollen lernen« die sechsjährige Primarschule – also das gemeinsame Lernen aller Kinder bis zum Ende der sechsten Klasse – verhindert hat. Heute sitzt er für die CDU in der Hamburger Bürgerschaft.

Scheuerl möchte die Schüler möglichst früh voneinander trennen, die starken von den schwachen, die einen sollen aufs Gymnasium, die anderen auf Haupt- und Realschulen, Gemeinschafts- und Stadtteilschulen – je nach Bundesland heißen sie anders –, und dann sollen die Schüler bleiben, wo sie sind. Vor allem geht es Scheuerl darum, das bedrohte Gymnasium zu schützen. »Die Entwicklung hin zu den Gesamtschulen führt zu einem Verlust von Qualität und der Wirtschaftskraft Deutschlands«, sagt er.

In Köln verteilt Scheuerl ein Infoblatt, auf dem steht, dass Schüler, die nach der zehnten Klasse aufs Gymnasium wechseln möchten, einen Lernrückstand von einem Jahr haben und deshalb »ihr blaues Wunder erleben« und »schlicht scheitern« werden.

Für mich klingt das so, als hätten privilegierte Menschen Angst, ihre Kinder müssten mit Arbeiter- und Migrantenkindern um Studienplätze konkurrieren. Innerlich höre ich wieder den Satz: »Das ist doch nichts für dich.« Und ich muss an Jutta Allmendinger denken und ihr Buch Schulaufgaben, das ich kürzlich gelesen habe. Allmendinger ist Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung und Professorin für Bildungssoziologie. Sie prangert an, wie fatal es ist, wenn schon junge Schüler nach Leistungsstärke selektiert werden. Unter Berufung auf eine Studie aus dem Jahr 2009 schreibt sie: »Werden die Kinder früh nach Schulformen getrennt, ordnen sie sich selbst in diese Schulform ein. Sie leiten daraus ab, wie viel oder wie wenig sie sich zutrauen.« Die frühe Selektion hat also einen sich selbst verstärkenden Effekt: Deklariert man Kinder aus bildungsfernen Haushalten früh zu schwachen Schülern, werden sie auch gar nicht das Selbstbewusstsein und die Kapazitäten entwickeln, um mit besser situierten Kindern mitzuhalten. Forscher haben herausgefunden, dass der Einfluss des Elternhauses auf die Intelligenz nur in den ersten zehn Jahren messbar ist. Später wirken andere Einflüsse – etwa die Schule – viel stärker. Das heißt: Intelligenz ist beeinflussbar. Aber man muss die Gelegenheit auch nutzen.

Ein paar Tage nach dem Bildungsbrunch mit Walter Scheuerl erzählt mir beim Treffen im Café Telos eine Teilnehmerin, wie ein Professor zu ihr sagte: »Ihr seid also der Verein, der jetzt diese Leute auf die Uni bringt. Lasst das mal!«

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Niemand darf wegen seiner Herkunft benachteiligt werden. So steht es im Grundgesetz. Aber manchmal habe ich das Gefühl, dass ein Teil der Ständegesellschaft immer noch fortlebt.

Auf der Deutschen Journalistenschule in München, wo ich nach meinem Germanistik-Studium eine Ausbildung zum Redakteur absolvierte, hätte es einen wie mich gar nicht geben dürfen. Nicht weil die Journalistenschule etwas gegen Bewerber aus Arbeiterfamilien hätte, im Gegenteil, sondern weil diese in der Regel gar nicht so weit kommen. »Kinder von Facharbeitern oder ungelernten Arbeitern […] existieren an den Journalistenschulen nicht«, heißt es in einer Dissertation der Technischen Hochschule Darmstadt. 85 Prozent der Journalistenschüler stammen aus einem »hohen oder gehobenen Herkunftsmilieu«, 15 Prozent stellt die »mittlere Herkunftsgruppe«.

Diesen Artikel dürfte es also gar nicht geben. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie in einer großen, angesehenen Zeitung einen Text von einem Arbeiterkind lesen, geht gegen null. Was bedeutet: Bestimmte Erfahrungen und Sichtweisen existieren nicht in den Medien, jedenfalls nicht in bestimmten Medien.

In einem Artikel im SZ-Magazin heißt es: »Ich weiß noch, wie ich erschrocken bin, als ich zum ersten Mal einen Schulfreund besuchte, der mit seinen Eltern in einer 75-Quadratmeter-Mietwohnung lebte.« Der Autor schreibt darüber, wie es ist, ein Jahr lang Mitglied der Linken zu sein. Er ist erstaunt über das unbekannte Milieu, in dem er sich auf einmal bewegt: »In meiner Familie ist keiner arbeitslos, keiner in einer Gewerkschaft, die meisten sind selbstständig, gut situiert, viele Ärzte, ein paar Anwälte.«

Derartige Artikel sind seit einigen Jahren in Mode. Mal wird ein halbes Jahr lang das Internet boykottiert, mal ein ganzes Jahr lang jeden Tag dasselbe Kleid getragen. Eine Freundin, in der DDR aufgewachsen, vermutet, hier versuchten Leute, die nie vor existenziellen Problemen standen, ein wenig Aufregung in ihr Leben zu holen. Sie nennt sie »Vertreter der Milchbrötchen-Generation«.

Meine Mama grübelt derweil darüber nach, wie sie nach bald 50 Jahren Haareschneiden im Alter über die Runden kommt. Noch zwei, drei Jahre will sie in ihrem Salon arbeiten. Zurzeit hat sie einen Rentenanspruch von 734,58 Euro im Monat.

Die Milchbrötchen-Abenteurer gehören zur Oberschicht. Meine Mama steht sozial einige Etagen unter ihnen. Und ich? Ich stehe irgendwo zwischen ihnen und ihr.

Manchmal male ich mir aus, wie es wäre, die beiden Welten zusammenzubringen. Ich stelle mir vor, ich würde eine große Party veranstalten, auf der sich Michael, Textchef der deutschen Ausgabe des Magazins Wired und heute einer meiner besten Freunde, und Rudi, ein Elektromeister aus meinem alten Sportverein, begegneten. Eine Party, auf der meine erste Freundin, die Molkereifachfrau, sich mit den Feuilletonistinnen und Psychologinnen unterhielte, mit denen ich später zusammen war. Eine Party, auf der meine Eltern mit den Herzchirurgen, Journalisten, Professorinnen ins Gespräch kämen, mit deren Kindern ich jetzt befreundet bin. Sie würden miteinander reden, anstatt sich zu ignorieren oder aufeinander herabzuschauen. So stelle ich mir das vor. Und dann schiebe ich den Gedanken wieder weg. Wahrscheinlich wären alle überfordert von so viel Nähe.

Vielleicht wäre auch ich überfordert. Wenn ich ehrlich bin – sind mir die Menschen aus meinem früheren Leben nicht manchmal peinlich? Ist mir meine eigene Familie nicht manchmal fremd? Mein Hund damals hieß Wastl, meine langjährige WG-Katze heute heißt Gretchen. Meine Familie kauft bei Aldi, ich erlaube mir, soweit es geht, Bioprodukte. Es ist nicht so, dass die soziale Kluft sich aufgelöst hätte, bloß weil sie inzwischen mitten durch meine Familie geht. Ich spüre an mir selbst, wie stark das Magnetfeld sozialer Kreise ist. Ich muss zugeben, dass auch ich in Schichten denke. Ich orientiere mich an denen, die mir ähnlich sind. Oder an denen, die ich für ähnlich halte. Vielleicht ist diese Erkenntnis der wichtigste Grund, warum ich glaube, dass die Schule die sozialen Grenzen durchbrechen muss.

Herr Proksch wohnt noch immer in Lauterbach, dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, wo er unterrichtete.

Die Tür öffnet sich, er steht vor mir, ich erkenne ihn sofort wieder.

Erster Satz: »Marco, schön, dass du da bist.«

Zweiter Satz: »Sag mal, die ZEIT, wie hast du es denn dorthin geschafft?«

Diese Worte schnüren mir den Hals zu. Wir gehen zu einer Sitzecke, ich sehe Zinnpokale, gestickte Bilder in dunklen Holzrahmen, setze mich auf ein Sofa und sinke so tief ein, dass ich meine, ich säße wieder zusammengesunken auf der Schulbank. Dazu passt, dass Herr Proksch – heute 66 Jahre alt und in Pension – noch immer Du zu mir sagt.

»Wissen Sie, was Sie mir damals empfohlen haben, Herr Proksch?«

»Nein. Ich kann ich mich nicht erinnern.«

Ich erzähle es ihm. Er sagt: »Da muss ich mich bei dir und deiner Mutter entschuldigen. Ich bin sprachlos, das ist eine schlimme Sache.«

Nach einer kleinen Pause fügt er an: »Eigentlich finde ich es sogar unanständig.«

Diese Worte fühlen sich gut an. Sie erinnern mich an die Reaktion von Frau Bäumler, der Realschuldirektorin, die uns zunächst hinauskomplimentieren wollte. Sie sagte nach unserem Vortrag, man müsse »letztlich« für unsere Arbeit dankbar sein. Sie lächelte sogar, als sie das sagte, obwohl man ihre Zähne dabei fast knirschen hören konnte.

In Herrn Prokschs Wohnzimmer ist es still geworden. Die Wanduhr tickt vor sich hin, und ich frage meinen alten Lehrer, was er davon hält, dass in diesen Wochen überall in Deutschland wieder Variationen des Wortes »Hauptschulempfehlung« auf Zeugnisse gedruckt werden. Welchen Wert haben solche Begriffe, wenn sie manche Schüler auf Jahre hin entmutigen und Begabungen vernichten?

»Marco, das frage ich mich jetzt auch«, sagt Herr Proksch.