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Das Haus des grünen Geistes

In Zürich isst man traditionell gerne rohes Fleisch oder Geschnetzeltes. Gerade dort steht das älteste vegetarische Restaurant der Welt

Das Haus duftet. Etwa 50 Meter davor, dahinter, links und rechts davon – wahrscheinlich hängt die Aromawolke sogar über dem Dach des Anwesens in der Sihlstraße 28 und vermengt sich dort mit dem Himmel über Zürich. Der Inhaber des Hauses sagt, diese Note aus Kreuzkümmel, Kurkuma und verschiedenen Currys sei nicht zu leugnen. Und da man sich in Zürich befindet, muss man unweigerlich an die prominentesten, stark riechenden Häuser der Schweiz denken: an all die Chäsfondue-Stuben und das hartnäckige Odeur, das sich über die Jahrhunderte darin festgesetzt hat. Rolf Hiltl, der Inhaber des duftenden Hauses unweit des Hauptbahnhofs im Zürcher Kreis 1, sagt deswegen: „Käsefondue wird es bei uns nie geben.“ Obwohl das Gericht alles hätte, um auf Hiltls Karte zu kommen.

Das Hiltl existiert seit 1898 – laut Guinnessbuch der Rekorde ist es das älteste vegetarische Restaurant der Welt. Einst wurde es als „Wurzelbunker“ verspottet, und die Leute, die es besuchten, als „Grasfresser“. 1897 gründeten deutsche Einwanderer die „Vegetaria AG“, unter deren Trägerschaft das Lokal als „Vegetarierheim und Abstinenzcafé“ am heutigen Standort eröffnete. Laut Rolf Hiltl hing das mit einem „Verein für Volksgesundheit“ zusammen. Dieser stand wiederum einer lebensreformerischen Künstlerkolonie im Tessin nahe. „Das waren reiche Leute, die eigentlich alles hatten, aber in der Reduktion ihre Freude fanden“, sagt Rolf Hiltl. Und somit war auch das Hiltl um die Jahrhundertwende ein asketischer Ortfür Sonderlinge.

Einer der ersten Gäste des Hauses war Ambrosius Hiltl, Rolf Hiltls Urgroßvater. Der nach Zürich ausgewanderte Schneider aus Neumarkt in der Oberpfalz hatte von seinem Arzt den Rat bekommen, seinem Rheuma fleischlose Nahrung entgegenzusetzen. Hiltl, der auch eine Freundschaft mit dem Vollwertkost-Pionier, Arzt und Müsli-Entwickler Maximilian Bircher-Brenner pflegte, übernahm das Restaurant. Er hatte sich nicht nur in die Gastronomie des Hauses, sondern auch in die Küchenchefin Martha verliebt. Die Liebe hielt, die Krankheit verschwand, das Hiltl steht noch heute in der Sihlstraße. Früher wählten die Gäste den Hintereingang, um sich nicht dem Spott der Leute aussetzen zu müssen. Auch lag das Haus einst noch am Rande Zürichs, eingekeilt zwischen einem Wald und einem Friedhof. Eine Laune der Stadtentwicklung brachte mit den Jahren das Zentrum nahe. „Bis in die siebziger Jahre war das Haus ein Körnlipicker-Laden“, sagt Rolf Hiltl. Dann lacht er sein lautes Schulbuben-Lachen, und man kann ihn sich gut beim Skifahren in Zermatt vorstellen. Er ist braun gebrannt, kommt gerade von einer „Gastro-Trendtour“ aus Shanghai zurück. Dort hat er sowohl Gassenküchen als auch edle Lokale besucht.

Das Hiltl gilt weit über Zürich hinaus als Kult, die Hiltls selbst als Szene-Gastro-Familie. Mittlerweile hat der Chef eine eigene Kochshow im Radio. Trotzdem scheint Hiltl, der sein Haus in vierter Generation führt, geerdet zu sein. Man trifft ihn nicht nur in seinem Büro an, sondern kann ihm auch dabei zuschauen, wie er Tabletts im Erdgeschoss des Buffetbereichs wegräumt, der das Herzstück des Hiltls ist. Hier stehen Hunderte Schüsselchen mit Chutneys, indischem Dal, Salaten und diversen Currys bereit. Bis zu 2000 Gäste bedienen sich dort täglich – vom Zürcher IT-Girl mit Mops über Mütter mit ihren Babys bis zu Bankern in Anzügen. Das Hiltl ist eine Zürcher Institution geworden und kein Ort für Eigenbrötler mehr. So zeigt sich an der Geschichte des Hauses auch der veränderte gesellschaftliche Stellenwert der fleischlosen Ernährung.

„Heute gehört es zumindest für kosmopolitische Leute zum guten Ton, sich zwischendurch vegetarisch zu ernähren“, sagt Hiltl. Ein Abstinenzverein ist das Hiltl gewiss nicht mehr, es gibt sich vielmehr urban und szenig. Zumeist schallt sanfter Soul aus den Lautsprechern, nachts ist das Restaurant ein Club, derzeit schmücken riesige, knallbunte Weihnachtsengel die Räume. Ein Kellner grüßt den Chef mit „Hoi, Rolf“, Hiltl klopft ihm auf den Rücken, hält einen Plausch – Nachnamen existieren im Hiltl nicht. Jeder Angestellte trägt einen Aufkleber mit seiner persönlichen E-Mail-Adresse. Rolf@hiltl.ch steht auf Hiltls Brust.

Wolfi@hiltl.ch bereitet gerade neben der heimeligen Bibliothek im Stockwerk über dem Buffet einen Kochkurs vor. Wolfgang Potzmann ist ganz in Weiß gekleidet, trägt ein Kochhemd mit silbernen Knöpfen und ein schwarzes Tuch um den Hals. Seine Biografie klingt wie ein gepuderter Kuchentraum: Ausbildung im Hotel Sacher, Stationen im Waldorf Astoria in New York und im Mandarin Oriental in Bangkok. Jetzt ist er zuständig für das Kochatelier und damit an diesem Sonntagnachmittag für 14 Frauen jeden Alters. Die Küchenecke ähnelt den in Deutschland so beliebten Fernseh-Kochstudios: hochmodernes Interieur, 32-fach geschmiedete Messer aus Damaszener-Stahl, Blick durch die großen Eckfenster auf die Sihlstraße.

Potzmann teilt die Frauen in Gruppen ein. Francesca und ihre Mutter Pierangela aus dem Tessin sind für das Käse-Soufflé aus Ricotta und Räuchertofu zuständig. Vy Chi, eine vietnamesischstämmige Zürcherin und zwei junge Studentinnen bereiten den Hauptgang, Peperoni-Apfel-Gulasch mit Petersilien-Kartoffelstampf, vor. Und Eva, eine an der Zürcher Goldküste lebende deutsche Architektin und ihre Schwiegermutter Prisca aus dem Zürcher Oberland kümmern sich um die Gnocchi aus Shiitake- und Steinpilzen. Die Frauen wollen, wie Vy Chi sagt, den „Spirit des Hiltls“ kennenlernen.

„Gell, Fisch gibt’s nicht in der vegetarischen Küche?“, will Prisca wissen. Darauf fällt Potzmann zum ersten Mal kein Wiener Schmäh ein. Er sagt, die meisten Gäste des Hiltl seien „Flexitarier“, also Menschen, die nicht ganz, aber hauptsächlich ohne Fleisch auskommen. Vegetarier seien die Minderheit. Von den 14 Teilnehmerinnen des Kochkurses lebt keine vegetarisch, Vy Chi schwärmt später sogar von den Vorzügen eines blutigen Entrecôtes.

„Ab und zu schmuggeln Gäste ein Stück Bündner Fleisch rein“, erzählt Rolf Hiltl. Nicht nur deswegen sei es wichtig, dieser zumeist männlichen Klientel, welche gut 30 Prozent der Hiltl-Kunden ausmache, „Fleisch-Ersatz“ wie Seitan und Tofu anzubieten, obgleich Hiltl das Wort „Fleisch-Ersatz“ nicht mag. Er sagt: „Im Gegensatz zu den Indern haben wir in der Schweiz eine Fleisch-Tradition. Unser Dal ist das Cordon bleu.“ Er selbst habe immer noch ab und an den Geruch eines Schnitzels mit Rahmsoße in der Nase. „Das sind Traditionen, und da müssen die Gäste abgeholt werden“, sagt er. Dann zeigt er auf ein von Tommy Hilfiger entworfenes Sofa. Man kann sich auf ihm, im Gegensatz zur Bibliotheksecke, ziemlich gut Don Draper, den kantigen Protagonisten und Steak-Esser der US-Serie „Mad Men“, vorstellen. „Wir wollen uns nicht nur als netten Frauenladen präsentieren, sondern auch Männer ansprechen – und dazu gehören das vegetarische Zürcher Geschnetzelte und das fleischlose Tatar.“

Das bereitet Potzmann nach einem Geheimrezept aus Aubergine und Soja zu. Für Rolf Hiltl ist Tatar „ein Klassiker der lokalen Küche“. Die Zürcher mögen rohes Fleisch. Der Tagesanzeiger hat vergangenes Jahr etwa 20 Tatars gekostet – das vegetarische von Hiltl kam unter die Top Sechs. Die Tester nannten es „außergewöhnlich“. Weil sie im Hiltl so undogmatisch mit dem Thema Vegetarismus umgehen, habe das Haus mehr als 100 Jahre überlebt, glaubt Rolf Hiltl. Und weil die Küche international ist. „Wenn wir die Auswahl zwischen einem kongolesischen Koch und einem Schweizer haben, dann nehmen wir den aus dem Kongo“, sagt Wolfgang Potzmann. Die Köche stammen aus 55 Ländern. Nach ihrer Anstellung werden sie nach den drei Lieblingsrezepten aus ihrer Familie befragt. „Die besten Köche sind die Mütter unserer Köche“, glaubt Potzmann. Den prägendsten internationalen Einschlag bekam das Hiltl bereits Ende der fünfziger Jahre, als Margrith Hiltl, die Großmutter von Rolf Hiltl, am Welt-Vegetarier-Treffen in Delhi teilnahm und in ihren Koffern neben Kardamom und Koriander vor allem indische Rezepte mit nach Zürich brachte. Heute gehören Currys zum primären Merkmal der Hiltl-Küche.

Aus den Urzeiten des Restaurants steht so nur noch die „ländliche Platte“ – Pellkartoffeln, Salz und Käse – auf der heutigen Speisekarte. Kein Gericht für Veganer. Die Hardliner unter ihnen, für Hiltl „Fundamentalisten, die Vegetarismus als Errettungsphilosophie für die Menschheit betrachten“, beschweren sich manchmal beim ihm. Hiltl hält dagegen: „Wenn ein Gericht vegan interpretiert werden kann, ohne dass der Genuss darunter leidet, dann machen wir das.“

Dann gibt es noch die extremen Gäste „von der anderen Seite“, wie Hiltl sagt. Das seien „Männer über 60, Zigarrenraucher und politisch rechts zu verorten“, in der Schweiz auch „Bünzlis“ genannt. Diese würden manchmal von ihren Frauen ins Lokal „geschleppt“. Neulich stand Hiltl vor seinem Lokal und beobachtete, wie eine Frau ihren Mann aufforderte: „Komm, lass uns ins Hiltl gehen.“ Er sträubte sich. Rolf Hiltl ging auf das Paar zu, lud sie ein und ließ dem Mann das vegetarische Geschnetzelte und ein Bier servieren. Als er ging, habe sich der Gast bedankt und gesagt, er komme bald wieder. Auch mit Essen kann man Politik betreiben. Marco Maurer